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Unsere
Fallbeispiele

Wir haben Lehrkräfte gefragt, was sie im Alltag bewegt und welche Themen oder Menschen sie beschäftigen - unabhängig von Fach oder Schulart. Wir haben zahlreiche spannende und emotionale Einsendungen erhalten und ausgewertet. Auf Basis der Ergebnisse haben wir Fallbeispiele konstruiert, welche wir mit Theorie und Empirie genauer beleuchten und haben diese dann wiederum durch praktizierende Lehrkräfte evaluiert. In den Beiträgen treffen sich also fundierte Theorie aus der Wissenschaft und erprobte Praxis aus dem Schulalltag. Es ist ein Kreislauf aus Praxis, Wissenschaft und zurück, der es ermöglicht theoretisch empirisches Wissen aus der Wissenschaft in die Schulen und das Realitätswissen der Praxis wieder an die universitäre Ausbildung zurück zu transferieren - eine Theorie-Praxis-Verzahnung, welche für psychologische Themen bisher schwer möglich ist.

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Ziel unserer Beiträge ist es jedoch keinesfalls den Praktikern ihre Arbeit mit noch mehr Theorie zu erklären und besserwisserisch Handlungsempfehlungen zu geben. Nein, es geht darum Lehrkräften, Pädagog*innen und Psycholog*innen einen Fahrplan an die Hand zu geben, der es ihnen ermöglicht ihre individuellen Themen aus dem Alltag aus neuen Blickwinkeln zu sehen. Wir zeigen Hinweise und Ideen auf wie ein Praktiker in herausfordernden psychologischen Situationen wieder an Stabilität gewinnt: einen Fahrplan zum Beobachten, Informationen sammmeln, Zusammenhänge herstellen, Situation verstehen und dann handeln und Lösungen finden. Wir zeigen also eine fundierte Vorgehensweise auf, mit der Praktiker*innen in psychologischen Situationen lernen mit Selbstsicherheit und Empathie umzugehen und Lösungen zu finden.

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Ein Mädchen spricht nicht mehr im Unterricht.

Ein Schüler macht nicht mehr mit.

Lisa

Lisa spricht nicht mehr

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Eine Lehrerin berichtet von einem Mädchen aus der Sekundarstufe I. Lisa. Das auffällige an Lisa: Lisa spricht nicht mehr. Nicht nur bei ihr, sondern in vielen Fächern schweigt sie gegenüber den Lehrkräften. Alle sind ratlos und frustriert und wissen nicht, wie sie vorgehen sollen oder wie es weitergehen kann. Alltägliche Fragen werden nicht beantwortet, die Mitarbeit und jegliche Kommunikation verweigert. Die Lehrkraft fragt sich, wie sie mit ihr interagieren und ihr helfen kann.


Die nahe liegende Frage ist also: Warum spricht Lisa nicht mehr? Was hat sie zum Schweigen bewogen? Und natürlich auch, was können die Lehrkräfte tun, um zu helfen und wieder eine intakte Kommunikation herzustellen?

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Unser Vorgehen

Im Laufe unserer evolutionären Entwicklungsgeschichte haben sich in unserer Psyche verschiedene Ebenen der Verhaltenssteuerung entwickelt. Wir haben gewissermaßen mehrere „Gehirne“ in uns, die jeweils versuchen, unser Verhalten auf eine bestimmte Weise und nach bestimmten inneren Maßstäben zu beeinflussen.

 

Will man also wirklich verstehen, warum eine Person ein bestimmtes Verhalten zeigt, muss man die verschiedenen „Gehirne“ der Person erkunden und sich jeweils auf die Suche nach möglichen Ursachen begeben. Man setzt sich also gewissermaßen verschiedene psychische Brillen auf, mit denen man jeweils andere mögliche Ursachen des Verhaltens sehen wird.

 

Da all unsere „Gehirne“ immer gleichzeitig aktiv sind, gibt es so etwas wie die einzig wahre Ursache nicht. Vielmehr wird man mit jeder weiteren Brille die innere Welt der Person ein Stück weit besser verstehen und damit die Person zunehmend besser pädagogisch begleiten können.

 

Hilfreich hierfür, für die Erkundung der verschiedenen „Gehirne“, sind die folgenden sechs Leitfragen, welche jeweils eine bestimmte Ebene der Psyche beleuchten:

 

  1. Welche Bedürfnisse könnten dem Verhalten zugrunde liegen?

  2. Welche Emotionen und Motive könnten die Ursache sein?

  3. Welche rationalen Vorstellungen und Ziele könnten hinter dem Verhalten stecken?

  4. Wie sieht das Selbstbild aus und welche Rolle könnte dieses spielen?

  5. Welche sozialen Hintergründe könnten in Bezug auf das Verhalten wichtig sein?

  6. Welche kulturellen Hintergründe könnten das Verhalten beeinflussen?

 

Wir werden im Folgenden beispielhaft den Fall Lisa auf den sechs verschiedenen Ebenen der Verhaltenssteuerung beleuchten und nach möglichen Erklärungen suchen. Das Ziel besteht dabei nicht darin, die im konkreten Fall der echten Lisa tatsächlich vorliegenden Ursachen zu beschreiben. Der Fall Lisa soll im Folgenden dazu dienen, die Funktionsweise unserer verschiedenen „Gehirne“ zu vermitteln. Deswegen werden auf jeder Ebene der Verhaltenssteuerung hypothetische Szenarien geschildert, die der Fall sein könnten, aber bei der echten Lisa nicht gegeben sein müssen.

 

Wenn Du zu den auf einer Ebene wirkenden psychischen Kräfte noch mehr wissen willst, kannst Du Dir in der Rubrik Wissen die entsprechenden Lehrvideos ansehen.

Link zum Lehrvideo: Unsere verschiedenen „Gehirne“ – oder: Die sechs Ebenen der Verhaltenssteuerung

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Wichtig: Die folgenden Ausführungen basieren auf der Annahme, dass es sich bei dem Verhalten im Fallbeispiel nicht um eine klinisch relevante Störung handelt. Genaueres hierzu kannst Du unter Entwicklungsproblem versus Psychische Erkrankung weiter unten erfahren.

Kräfte bei Lisa

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Lisa_Kräfte
Lisa Bedürfnisse
Lisa Emotionen
Rationales_Gehirn
Selbst_Gehirn
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Im Fall von Lisa kann das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Das Erleben von Kontrolle ist deswegen für Lisa so wichtig, weil Lisas Eltern sich aktuell in einer akuten Trennungsphase nach langjähriger Beziehung befinden, was für Lisa eine extreme Verletzung ihres Bedürfnisses nach Sicherheit bedeutet. Lisa leidet schon seit längerem unter der angespannten und konfliktgeladenen Situation bei ihr Zuhause. Immer wieder ist auch Lisas Erziehung Gegenstand der Ehestreitigkeiten. Nach einem erneuten eskalierten Konflikt haben Lisas Eltern ihr nun mitgeteilt, dass sie sich trennen. Da weder Vater noch Mutter bisher eine bezahlbare neue Wohnung gefunden haben, leben sie aber zunächst weiter unter einem Dach. Lisa weiß aber bereits, dass demnächst ein Umzug anstehen wird.

 

Lisas bisherige Welt ist durch die aktuellen Ereignisse in ihren Grundfesten erschüttert: Wie wird es mit ihrem Kinderzimmer weitergehen? Wird sie Mama und Papa in Zukunft noch sehen? Was wird sich noch alles verändern? Wollen beide Eltern nach der Trennung überhaupt noch etwas von ihr wissen? 

 

Das Schweigen von Lisa kann ein Versuch ihrer Psyche sein, das Erleben dieser großen Unsicherheiten durch das Herbeiführen von Situationen zu kompensieren, in welchen ihr Grundbedürfnis nach dem Erleben von Kontrolle erfüllt wird. Durch das Schweigen erlebt Lisa Kontrolle. Zum einen behält sie so die Kontrolle über das eigene Handeln, denn sie macht nicht das, was jemand anderes von ihr fordert. Zum anderen erlebt sie Kontrolle über das Handeln der anderen, denn immer wenn sie schweigt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Lehrkräfte zunehmend auf sie. Und selbst wenn Schimpfen oder gar die Androhung von Zwang eintreten sollten, macht das Gegenüber genau das, was Lisa erwartet hat.

 

Dass dadurch andere Bedürfnisse wie das Erzielen von Leistungen vernachlässigt werden, wird von ihr als unwichtig erlebt, da die eintretenden Verhaltenskonsequenzen nur aus der Perspektive ihres übermäßig aktivierten Kontrollbedürfnisses beurteilt werden, welches alle anderen Bedürfnisse in den Hintergrund drängt.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?


Lisa vor diesem Hintergrund zu Gesprächen und Unterrichtsbeiträgen zu zwingen, würde bedeuten, ihr Bedürfnis nach Kontrollerleben noch mehr zu verletzen. Das würde Lisas Psyche in dieser für sie schwierigen Situation nur noch weiter destabilisieren. Wichtig ist stattdessen, Lisa in möglichst vielen Situationen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.

 

Dies kann auch funktionieren, ohne dass man dazu miteinander sprechen muss. Wenn Lisa erleben kann, dass es trotz der akuten Instabilität in ihrem Elternhaus noch Erwachsene gibt, auf die sie sich verlassen kann und die es gut mit ihr meinen, ist dies für Lisa eine wichtige Erfahrung. Man kann sich als Lehrkraft hier ruhig auf das individuelle Erfahrungswissen und die eigene Kreativität verlassen, wenn es um die Frage geht, wie man einer bestimmten Schülerin Sicherheit vermitteln und ein Kontrollerleben ohne Zwang ermöglichen kann.

 

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2. Ein verletztes Selbstwertbedürfnis

 

Ein weiteres zentrales Grundbedürfnis ist, sich als eine anerkannte und wertgeschätzte Person zu erleben. Macht ein Kind die Erfahrung, dass man aufgrund des gezeigten Verhaltens von anderen abgewertet wird, stellt das eine Verletzung dieses Bedürfnisses nach Selbstwert dar.

 

Ein Verhalten, mit dem diese Bedürfnisverletzung vermieden werden kann, ist, kein Verhalten mehr zu zeigen. Auch ein Sich-Nicht-Verhalten kann also ein Verhalten sein, mit welchem ein Bedürfnis erfüllt werden kann – in diesem Fall das Bedürfnis, eine Verletzung des Selbstwertes zu vermeiden.

 

Macht ein Kind nun in einer Situation wiederholt die Erfahrung, dass durch das Zeigen von keinem Verhalten ein Bedürfnis befriedigt wird, stellt sich ein Verhaltensmechanismus ein: Immer, wenn das Kind in eine vergleichbare Situation gerät, zieht es sich in sich zurück und zeigt kein Verhalten mehr. Das Kind erlebt dabei innerlich keine Angst, weil durch den etablierten Verhaltensmechanismus eine sichere Methode vorhanden ist, das Bedürfnis nach einer Vermeidung einer Selbstwertverletzung zu befriedigen.

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Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa hat in der Grundschulzeit zahlreiche negative Erfahrungen in ihrer Klasse machen müssen. Ihre Wortmeldungen wurden von der Klassenlehrerin vor der Klasse immer wieder sehr abwertend beurteilt, was dazu geführt hat, dass sich einige Klassenkammeraden oft über sie lustig gemacht haben, Das hat ihr Bedürfnis, sich als Person wertvoll zu fühlen, immer wieder tief verletzt.

Das Bedürfnisgehirn 

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Das älteste in uns vorhandene Verhaltenssteuerungssystem ist unser Bedürfnisgehirn. Ein bestimmtes Verhalten wird dort dann ausgelöst, wenn sich dieses Verhalten in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen hat, um ein bestimmtes Grundbedürfnis zu erfüllen. Ein Grundbedürfnis kann man sich so vorstellen, dass es einen inneren Soll-Wert gibt, zu dem unser Organismus ständig hinstreben möchte.

 

Das Besondere an dieser Verhaltenssteuerung ist, dass uns die Gründe, warum wir uns so verhalten, oft nicht bewusst sind: Unser Organismus löst hier ein Verhalten aus, nicht weil wir uns danach besser fühlen oder damit ein rationales Ziel erreichen wollen, sondern weil damit evolutionär bedingte innere Soll-Werte angestrebt werden. Da diese Art der Verhaltenssteuerung nicht den Maßstäben unserer bewusst wahrgenommenen Gefühle und rationalen Ziele folgt, sind auf dieser Ebene ausgelöste Verhaltensweisen oft besonders schwer zu verstehen.

 

Die Grundbedürfnisse des Menschen gehen von physiologischen Bedürfnissen (Essen, Trinken, Schlafen), über psychische Bedürfnisse (Autonomie, Kontrolle, Soziale Eingebundenheit) bis hin zu Bedürfnissen, die zur Entfaltung des Selbst wichtig sind (Selbstwert, Selbstverwirklichung). In Abhängigkeit von den gemachten Erfahrungen bilden sich im Laufe eines Lebens innere Bedürfnis-Verhaltens-Landkarten aus, welche in Situationen automatisch und schnell das Verhalten aktivieren, mit welchem in der Vergangenheit diese Bedürfnisse erfolgreich erfüllt werden konnten.

 

Im besten Fall sind die Bedürfnisse in einem Gleichgewicht – jedes Bedürfnis wird durch die vorhandene innere Bedürfnis-Verhaltens-Landkarte ausreichend befriedigt. Allerdings kann die Verhaltenssteuerung auch außer Tritt geraten.

 

Wenn ein Grundbedürfnis nicht erfüllt werden kann, kann es zur inneren Schieflage kommen. Es kann sein, dass dann alles Verhalten nur noch nach diesem einen Grundbedürfnis ausgerichtet wird, wodurch alle anderen Bedürfnisse vernachlässigt werden. Andererseits kann es sein, dass ein nicht erfüllbares Bedürfnis durch ein anderes Bedürfnis ersetzt wird und damit langfristig vernachlässigt wird. Da die bedürfnisbezogene Steuerung unserer bewussten Wahrnehmung nicht direkt zugänglich ist, wird das aber oft von den betroffenen Personen nicht bemerkt.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der bedürfnisbezogene Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Lisa, die auf der Ebene des Bedürfnisgehirns angesiedelt sind:

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1. Ein übermäßiges Kontrollbedürfnis
 

Ein zentrales Grundbedürfnis ist, sich als jemand zu erleben, der die Umwelt unter Kontrolle hat und diese in Richtung der eigenen Bedürfnisse, Emotionen und Ziele beeinflussen kann. Gerade bei Kindern, welche schlimme Erfahrungen durchmachen oder durchgemacht haben, findet sich oft ein übermäßig ausgeprägtes Bedürfnis nach dem Erleben von Kontrolle. Denn solange man sich als jemand erlebt, der die Umwelt

kontrolliert, werden die schlimmen Dinge nicht mehr passieren. 

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Um diese Verletzung ihres Selbstwertbedürfnisses nicht erleben zu müssen, hat sich in ihrer Psyche ein Verhaltensmechanismus ausgebildet: sie spricht in der Klasse nicht mehr. Durch diesen Verhaltensmechanismus hat sie sich eine Art „Schutzmantel“ zugelegt, welcher sie vor weiteren Abwertungen und Verletzungen ihres Bedürfnisses nach Selbstwert schützen soll.

 

Obwohl sie in ihrer neuen Klasse nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule bisher keinerlei demütigende Erfahrungen gemacht hat und weder die Lehrkraft noch ihre Mitschüler von ihren damaligen demütigenden Erfahrungen wissen, ist dieser Verhaltensmechanismus in ihrer Psyche nach wie vor etabliert.

Die damaligen Erfahrungen waren so schlimm, dass sie das Risiko, noch einmal so verletzt zu werden, auf keinen Fall eingehen will.

 

Dass dadurch andere Bedürfnisse wie das Erzielen guter mündlicher Leistungen verletzt werden, nimmt sie dafür in Kauf. Der Verhaltensmaßstab des Vermeidens einer möglichen Verletzung ihres Selbstwertes steht in ihrem Bedürfnissystem so stark im Vordergrund, dass die Verhaltensmaßstäbe anderer Bedürfnisse ihre Relevanz verloren haben.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Vor dem geschilderten Hintergrund immer wieder zu versuchen, Lisa zu aktiven Unterrichtsbeiträgen zu bewegen, stellt für die momentane Organisation ihres Bedürfnissystems eine Bedrohung dar. Man würde dadurch nur erreichen, dass ihr Nicht-Verhalten zusätzlich noch von der Emotion Angst begleitet wird, weil sie fürchtet, dass ihr etablierter Verhaltensmechanismus nicht ausreichen könnte, um eine drohende Selbstwertverletzung zu vermeiden. Man würde einer negativen Dynamik also nur noch eine weitere negative Dynamik hinzufügen.

 

Stattdessen kann man versuchen herauszufinden, welche konkreten Elemente der Situation in der Klasse das Nicht-Verhalten bei Lisa auslösen, und versuchen Situationen zu schaffen, welche diese Elemente nicht enthalten. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Anwesenheit bestimmter Schüler ausschlaggebend für das Anspringen ihres Verhaltensmechanismus ist. Eine Möglichkeit wäre dann das Schaffen von Kleingruppen, die so aufgeteilt sind, dass Lisa in einer Gruppe ist, in welcher diese Schüler nicht dabei sind. Wichtig ist dann, dass man zusätzlich sicherstellt, dass Lisa in dieser neuen Situation die Erfahrung macht, dass ihre Wortbeiträge von den anderen nicht abgewertet, sondern wertgeschätzt werden.

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2. Die Emotion Scham

 

Eine weitere starke Emotion ist die Scham. Scham wird in Reaktion auf Situationen erlebt, in welchen man meint, bestimmten Normen, Werten und Ansprüchen aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit und Unfähigkeit nicht gerecht zu werden. Die Funktion der Emotion Scham besteht darin, die psychische Funktionsweise so einzustellen, dass Situationen möglichst vermieden werden, in welchen das empfundene eigene Versagen offenbar werden könnte.

 

Gerade im Jugendalter, wo die eigene Person zunehmend realistisch wahrgenommen wird und gleichzeitig die im sozialen Umfeld vorhandenen Werte für die Bewertung der eigenen Person immer wichtiger werden, kann die Emotion Scham in sozialen Situationen eine wichtige Rolle spielen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Erleben von Scham nicht leicht öffentlich eingestanden werden kann, weil dadurch das empfundene Versagen noch stärker offenbar werden würde.

 

Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa schämt sich für den Klang ihrer eigenen Stimme, da sie mit starkem Dialekt spricht. In der Grundschule war das bisher kein Problem, weil viele Kinder denselben Dialekt gesprochen haben. Doch in ihrer Klasse auf der weiterführenden Schule gibt es nun nur wenige andere Kinder, die ebenfalls Dialekt sprechen.

 

Als Lisa bemerkt hat, dass sie von einigen Kindern in ihrer neuen Klasse aufgrund ihrer dialektbedingten Sprachfärbung ausgelacht wird, hat sie begonnen, sich für ihren Dialekt zu schämen. Zunächst hat sie noch versucht, ihre dialektbedingte Sprachfärbung abzulegen, was ihr aber leider nicht gelungen ist.

 

Inzwischen ist es sogar schon so weit, dass allein der Gedanke daran, vor der Klasse sprechen zu müssen, die Emotion Scham in ihr aufwallen lässt.

 

Dies führt dazu, dass sie ihr Kopf rot wird, sie zu schwitzen beginnt, ihre Lippen sich verkrampfen und sie am liebsten sofort aus der Situation fliehen möchte. Lisa hat auch schon mehrmals die Erfahrung gemacht, dass sie in solchen Fällen sogar noch stärker in ihren Dialekt zurückfällt und sich noch mehr verhaspelt. Inzwischen ist ihr Schamgefühl in solchen Situationen so stark, dass sie das Gefühl hat, den Mund gar nicht mehr öffnen zu können und kein einziges Wort mehr sprechen zu können.

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Das emotionale Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des emotionalen Gehirns funktioniert so, dass unser Organismus je nach momentan erlebter Emotion auf allen Ebenen der Verhaltenssteuerung anders funktioniert. In Abhängigkeit von der erlebten Emotion denkt man anders, nimmt die Welt anders wahr, ist anders motiviert und anders körperlich aktiviert. Will man eine Person wirklich verstehen, muss man sich also bewusst machen, dass in einem bestimmten emotionalen Zustand immer nur der Anteil der eigenen Person gesehen wird, der durch die Emotion momentan in den Vordergrund gehoben wird.

 

Der Grund, warum in einer bestimmten Situation eine bestimmte Emotion ausgelöst wird, liegt in unserer Lebensgeschichte: Wenn in einer bestimmten Situation eine Emotion ausgelöst wird, wird diese mit den in der Situation vorhandenen Reizen verknüpft. Trifft man erneut auf die betroffenen Reize, geht unser Organismus wieder in den entsprechenden emotionalen Zustand. Da auch in der Situation vorhandene nebensächliche Reize mit Emotionen verknüpft werden, ist es manchmal nicht leicht zu verstehen, woher unsere emotionalen Reaktionen kommen.

 

Im Laufe eines Lebens bildet sich dadurch eine innere emotionale Landkarte aus, mit welcher unser Organismus ständig die Umgebung durchforstet. Wird ein Reiz entdeckt, der in der Vergangenheit mit einer Emotion verknüpft wurde, wird schnell und automatisch diese Emotion ausgelöst.

 

Im besten Fall sind die ausgelösten Emotionen für das Fortkommen der Person hilfreich. Im schlechten Fall werden Emotionen ausgelöst, welche dysfunktional sind und das Fortkommen beeinträchtigen. In diesem Fall ist es wichtig, über Strategien zu verfügen, dysfunktionale Emotionen zu regulieren. Fehlen geeignete Regulationsstrategien, besteht die Gefahr, von der Emotion überwältigt zu werden und ein Verhalten an den Tag zu legen, welches man im Nachhinein bereut.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der emotionalen Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Lisa, die auf der Ebene des emotionalen Gehirns angesiedelt sind:

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1. Die Emotion Trauer 

 

Eine starke Emotion ist die Trauer. Trauer wird in Reaktion auf einen nicht mehr rückgängig machbaren Verlust einer Sache erlebt, welche in Bezug auf unsere inneren Wertmaßstäbe eine hohe Wichtigkeit hatte. Dabei kann es sich um den Verlust eines geliebten Menschen handeln, aber auch um den Verlust eines persönlich wichtigen Gegenstandes oder um den Abschied von einer als schön erlebten Lebensphase.

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Im Falle, dass ein Verlust die Kernelemente unserer bisherigen inneren psychischen Organisation betrifft, besteht eine der Funktionen der Trauer darin, unsere innere Funktionsweise zunächst so einzustellen, dass unsere Psyche nicht zusammenbricht. Bei sehr einschneidenden Verlusten kann deswegen das Erleben von Trauer als Schutzfunktion damit einhergehen, dass das schlimme Lebensereignis aus dem Bewusstsein verdrängt wird.

 

Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa trauert um ihre verstorbene Großmutter, zu der sie eine sehr innige Beziehung hatte. Lisas Eltern sind selbst mit dem Sterbeprozess überfordert und wissen nicht, wie sie über dieses Thema mit Lisa sprechen sollen. Sie wollen Lisa nicht belasten mit dem schwierigen Thema und Lisa spürt deutlich, dass dieses Thema ein Tabu ist.

 

Ohne eine elterliche Unterstützung, sieht Lisas Psyche keinen anderen Weg als zu versuchen, das schlimme Ereignis des Versterbens ihrer Großmutter nicht wahrhaben zu müssen und zu verdrängen. Bei Lisa äußert sich diese Verdrängung in einer Weigerung zu sprechen. Es liegt dabei die innere und unbewusste Überzeugung vor: „Solange ich nicht spreche, wird der Tod nicht Realität“.

 

Solche „Glaubenssätze“ muten einem als Erwachsenem vielleicht unverständlich an, können in der Welt eines Kindes aber durchaus eine Rolle spielen. In Lisas familiären Umfeld fehlt außerdem der Raum, über das schlimme Ereignis zu sprechen und gemeinsam zu trauern. Dies verstärkt Lisas Sprachlosigkeit und Verdrängung. Lisas Eltern sind stark mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt und sind vor allem froh, dass Lisa keine Probleme zu haben scheint.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Lisa vor dem beschriebenen Hintergrund zum Sprechen zu zwingen, hätte für ihre Trauerbewältigung negative Auswirkungen. Wichtig ist im Gegenteil, dass Lisa in dieser schwierigen Phase Stärkung und Unterstützung erfährt. Dafür muss nicht unbedingt das Thema Trauer direkt im Unterricht oder einem Gespräch aufgegriffen werden. Das allgemeine Ziel sollte sein, dass es Lisa ermöglicht wird zu trauern und einen Raum für ihre Trauer zu haben.

 

Zusätzlich kann man versuchen, Lisa emotional positive Erlebnisse im Rahmen der Schule zu ermöglichen. Dadurch, dass Sie erlebt, dass es eine Welt jenseits ihrer Trauer gibt, kann das eine positive Bewältigung des Trauerprozesses unterstützen.

 

Da Lisas Familie im Umgang mit der Trauer offensichtlich überfordert ist, kommt einem als Lehrkraft eine wichtige Rolle als Vertrauensperson zu. Wenn es gelingt, Lisa zu vermitteln, dass immer eine Tür bei schwierigen Themen für sie offensteht, steckt darin eine große Chance, dass sich Lisa öffnet. Wenn nötig, kann man auf der Basis dieses Vertrauens auch eine Brücke zu einer Ansprechperson aus dem Bereich der Schulpsychologie oder Kinder-/Jugendberatung sein.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Zwingt man Lisa trotz ihrer heftigen Scham dazu, sich vor der Klasse oder auch nur in einem Einzelgespräch mündlich zu äußern, wird dies für Lisa eine sehr unangenehme und schamerfüllte Situation sein. Ein solches

Erleben kann Lisas Scham schlimmstenfalls noch weiter verstärken.

 

Stattdessen ist es wichtig, sich zunächst ein genaueres Bild der Hintergründe ihrer Schamreaktion zu machen. Hier gilt es herauszufinden, ob Lisa innerlich dieselben Wertmaßstäbe hat wie ihr soziales Umfeld, und ob die diesbezüglichen von ihr wahrgenommenen eigenen Unzulänglichkeiten bei ihr objektiv vorhanden sind oder von ihr nur subjektiv so wahrgenommen werden.

 

Je nach Sachlage gibt es dann verschiedene Möglichkeiten. Auf der Ebene der Wertmaßstäbe kann man beispielsweise versuchen, Lisas innere Wertmaßstäbe stärker im sozialen Umfeld der Klasse zu verankern. Im Falle von nur subjektiv wahrgenommenen Unzulänglichkeiten kann man versuchen, ihre Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung zu verbessern, indem man ihr glaubhafte positive Rückmeldungen gibt. Wichtig ist bei solchen Maßnahmen, mit eher impliziten Strategien zu arbeiten, ohne explizit Bezug auf Lisas Schamreaktion zu nehmen.

 

Sollte sich Lisa in einem Gespräch vertraulich öffnen, kann man versuchen, ihr einfache Techniken zur Emotionsregulation wie zum Beispiel das Arbeiten mit der Körperhaltung zu vermitteln, welche ihr helfen können, eine einmal ausgelöste Scham schnell wieder in den Griff zu bekommen.

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Das rationale Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des rationalen Gehirns basiert auf unserer Fähigkeit, sich Angelegenheiten mit Hilfe unserer Sprache innerlich zu veranschaulichen und sich darauf aufbauend rationale Ziele zu setzen, was man erreichen möchte.

 

In einem ersten Schritt macht man sich dabei mittels der in uns vorhandenen begrifflichen Vorstellung von der Welt ein Bild von der Situation und den sich daraus ergebenden möglichen Konsequenzen. In einem zweiten Schritt können wir dann abwägen, welche der Konsequenzen uns angesichts unserer rationalen Ziele und Wertmaßstäbe als wünschenswert bzw. nicht wünschenswert erscheinen. In einem dritten Schritt können wir schließlich einen Handlungsplan aufstellen, wie wir es schaffen könnten, die wünschenswerten Konsequenzen herzustellen bzw. die nicht wünschenswerten Konsequenzen zu vermeiden.

 

Da unser rationales Gehirn die Welt durch die Brille der in uns vorhandenen begrifflichen Vorstellungen von der Welt betrachtet, handelt es sich bei unseren rationalen Vorstellungen, Zielen und Wertmaßstäben nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Vorstellungen. Je nachdem, welche begrifflichen Vorstellungen eine Person im Laufe ihres Lebens erworben hat, wird dieselbe Situation unterschiedlich rational wahrgenommen und bewertet.

 

Im besten Fall spiegelt das rationale Bild die Situation so wider, dass es für das Fortkommen der Person hilfreich ist. Allerdings kann es auch sein, dass das rationale Bild einer Person bestimmte Facetten der Situation fehlerhaft oder gar nicht abbildet, oder dass Ziele verfolgt werden, welche für das Fortkommen hinderlich sind. Problematisch ist das insbesondere dann, wenn der subjektive Charakter unserer rationalen Vorstellungen nicht erkannt wird, sondern diese für die einzig mögliche „Wahrheit“ gehalten werden.

 

Da die rationalen Ziele einer Person nicht notwendigerweise mit den Verhaltenszielen des emotionalen Gehirns und des Bedürfnisgehirns übereinstimmen müssen, ist es für die Verhaltenssteuerung durch Ziele wichtig, dass Strategien vorhanden sind, mittels derer widersprüchliche emotionale oder bedürfnisbezogene Verhaltensziele im Moment kontrolliert und langfristig in Einklang gebracht werden können.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der rationalen Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgt nun eine mögliche Erklärung für den Fall Lisa, die auf der Ebene des rationalen Gehirns angesiedelt ist:

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1. Ein instrumentelles Ziel 

 

Bei den Zielen einer Person ist es wichtig, zwischen zwei Arten von Zielen zu unterscheiden: Zwischen den inhaltlichen Zielen, welche den Endzustand definieren, den man mit seinem Handeln zu erreichen versucht, und den instrumentellen Zielen, welche den Weg betreffen, den man gehen muss, um den gewünschten Endzustand zu erreichen.

 

Ausschlaggebend für die grundlegende Richtung des Verhaltens sind unsere inhaltlichen Ziele, weil diese den als wünschenswert beurteilten Endzustand festlegen. Die instrumentellen Ziele werden nur so lange verfolgt, wie das damit angestrebte inhaltliche Ziel verfolgt wird. Sobald das inhaltliche Ziel wegfällt, prägen auch die damit verbundenen instrumentellen Ziele unser Verhalten nicht mehr.

 

Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa hat mit ihren Freundinnen gewettet, ob es ihr gelingt, eine Woche lang im Unterricht zu schweigen. Schon die kleinste mündliche Äußerung hat zur Folge, dass sie die Wette verliert. Diese Wette gilt für Lisa als Mutprobe, um in den begehrtesten Freudinnenkreis der Klasse aufgenommen zu werden. Lisas Verhalten resultiert also aus einem instrumentellen Ziel, das sie sich gesetzt hat, um das eigentlich dahinterstehende inhaltliche Ziel zu erreichen, zu einer bestimmten sozialen Gruppe dazuzugehören.

Da die Aufnahme in den begehrtesten Freudinnenkreis der Klasse für Lisa ein sehr wichtiges Ziel ist, steht für sie viel auf dem Spiel, weshalb sie sich einen genauen Plan zurechtgelegt hat: Wird sie aufgerufen, vermeidet sie Augenkontakt und sieht ganz ruhig zu Boden und zuckt nur mit den Schultern. Ohne Augenkontakt fällt ihr das Schweigen leichter. Außerdem meidet sie Situationen, die ein Einzelgespräch mit einer Lehrkraft zur Folge haben könnten. Auch das hilft ihr beim Erreichen ihres Ziels. Wird sie dennoch direkt angesprochen, hat sie sich überlegt, einfach gar nicht zuzuhören, indem sie innerlich andauernd „blablablabla“ ausspricht.

 

Um damit zurechtzukommen, dass sie mit ihrem Schweigen ihr Ziel, gute Noten zu bekommen, vernachlässigt, hat sie sich eingeredet, dass es sich ja nur um eine Woche handelt, so dass die vielleicht drohenden schlechten Noten nicht so ins Gewicht fallen werden. Dass sie sich in den Schweigesituationen innerlich komisch fühlt und das eigentlich doof findet, versucht sie damit zu überdecken, dass sie sich ausmalt, wie toll es sich anfühlen wird, wenn sie in den begehrtesten Freudinnenkreis der Klasse aufgenommen wird.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Wenn eine solche von der Zeit her begrenzte Verhaltensdynamik aktuell ihren Lauf nimmt, ist es relativ schwer, von außen etwas daran zu ändern. Binnen der kurzen Zeit von einer Woche ist es nahezu unmöglich, Lisas innere Verhaltensteuerung oder die auf der Ebene der Gruppe etablierten Wertmaßstäbe zu ändern.

 

Stattdessen macht es Sinn, die während dieser Woche fehlenden Beiträge von Lisa aus der Bewertung ihrer Leistung herauszunehmen, da ihr Nichtantworten ihr wahres Leistungspotential nicht widerspiegelt. Gleichzeitig kann man das Verhalten von Lisa vor dem Hintergrund betrachten, dass sich darin bei ihr vorhandene Stärken zeigen: Lisa beweist mit ihren zurechtgelegten Strategien zur Zielerreichung eine hervorragende Planungsfähigkeit, eine große Ausdauer und einen starken Willen. Das sind Ressourcen, die Lisa in ihrem Leben vermutlich noch an vielen Stellen weiterhelfen werden.

 

Wenn man solche Verhaltensdynamiken verhindern möchte, muss man präventiv denken. Hier ist es zum einen wichtig, die einzelnen Schüler und Schülerinnen vor dem Hintergrund der in der Klasse vorhandenen sozialen Gruppen zu betrachten. Stellt man fest, dass Schüler noch nicht in die in der Klasse vorhandenen Gruppen  integriert sind, kann man versuchen, mittels Maßnahmen zur Förderung der Gruppenbildung eine bessere Integration der betroffenen Schüler zu erreichen. Durch eine aktive Steuerung der für die Gruppenbildung relevanten Kriterien kann präventiv der Dynamik entgegengewirkt werden, dass die Gruppenzugehörigkeit an problematischen Kriterien festgemacht wird.

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Das Selbst-Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des Selbst beruht darauf, dass wir uns mit Hilfe unseres rationalen Gehirns auch ein Bild von uns selbst machen können. Dabei lassen sich drei inhaltliche Bereiche abgrenzen: Man kann sich die Frage stellen, welche Bedürfnisse, Emotionen, Ziele und Wertmaßstäbe bei einem selbst im Vordergrund stehen (Selbstbild), ob man die Welt wie gewünscht beeinflussen kann (Selbstwirksamkeit) und ob man mit dem Bild von sich selbst und der empfundenen Selbstwirksamkeit zufrieden ist (Selbstwert).

 

Das Selbstbild enthält Vorstellungen darüber, wie man meint momentan zu sein, wie man meint, sich in Zukunft entwickeln zu können, und wie man eigentlich gerne sein würde. Wie bei unseren rationalen Vorstellungen über die Welt, handelt es sich auch bei unseren rationalen Vorstellungen und Bewertungen über uns selbst nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Vorstellungen.

 

Im besten Fall spiegelt das Selbstbild die in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele möglichst realistisch, umfassend und miteinander integriert wider.

 

Allerdings ist uns, wie bei unserem Wissen über die Welt, auch bei unserem Wissen über uns selbst im gegenwärtigen Moment immer nur ein kleiner Teilausschnitt davon bewusst. Dieser Tatsache ist man sich oft nicht bewusst, sondern man hat den Eindruck, man wäre nichts anderes als der momentan im Vordergrund stehende Teilausschnitt des Selbst, was die Gefahr mit sich bringt, weitere Facetten der eigenen Person zu vernachlässigen.

 

Hinsichtlich der Vorstellungen, wie man gerne sein würde, sind zwei unterschiedliche Maßstäbe zu unterscheiden. Man kann sich aus der Perspektive der eigenen inneren Maßstäbe betrachten (intrinsisch) oder aus der Perspektive der Maßstäbe anderer Personen (extrinsisch). Eine rein intrinsische Selbstteuerung kann hinsichtlich der Integration in eine soziale Gruppe problematisch sein, eine rein extrinsische Selbststeuerung bringt die Gefahr einer Vernachlässigung der eigentlichen inneren Bedürfnisse und Emotionen mit sich.

 

Hinsichtlich der empfundenen Selbstwirksamkeit ist sowohl eine Unterschätzung als auch eine zu starke Überschätzung der Beeinflussbarkeit der Welt dysfunktional. Eine leichte Überschätzung kann aber ein Entwicklungsmotor sein. Bei der Abschätzung der Selbstwirksamkeit spielt eine wichtige Rolle, ob man die Ursachen von Erfolgen bzw. Misserfolgen sich selbst oder äußeren Einflussfaktoren zuschreibt und die Ursachen als änderbar oder nicht änderbar wahrnimmt. Dysfunktional ist, wenn ein Misserfolg äußeren Ursachen zugeschrieben wird, die als nicht änderbar eingeschätzt werden.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der selbstbezogenen Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Lisa, die auf der Ebene des Selbst angesiedelt sind:

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1. Ein geringes Fähigkeitsselbstkonzept

 

Ein wichtiger Einflussfaktor auf die schulische Leistung auf der Ebene des Selbst ist das sogenannte Fähigkeitsselbstkonzept, welches die subjektiven Überzeugungen hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten beschreibt. Das Fähigkeitsselbstkonzept enthält dabei sowohl Überzeugungen hinsichtlich der momentan vorhandenen Fähigkeiten als auch Überzeugungen hinsichtlich des Potentials der weiteren Entwicklung.

 

Das Fähigkeitsselbstkonzept speist sich aus den eigenen leistungsbezogenen Erfahrungen in der Vergangenheit, den Einschätzungen, die wir von als relevant erachteten Personen erhalten, sowie den Beobachtungen, die wir bei Personen machen, welche als einem ähnlich empfundenen werden.

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Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens angesiedelt sein. Vor ihrem Wechsel auf die

weiterführende Schule hatte Lisa in ihrer Grundschulklasse immer zu den Besten gehört und sich rege am Unterricht beteiligt. Nach ihrem Wechsel aufs Gymnasium ist sie nun in einer Klasse, wo viele ihrer Mitschüler deutlich besser als sie sind.

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Diese Erfahrung hat ihre bisherigen Überzeugungen zu ihren Fähigkeiten zutiefst erschüttert. Sie hat den subjektiven Eindruck, plötzlich gar nichts mehr zu können und zu den schlechtesten Schülern zu gehören. Gefördert wird ihr negativer Eindruck dadurch, dass ihre neue Lehrkraft die Noten dadurch festlegt, dass sie die Leistungen der Schülerinnen und Schüler miteinander vergleicht. Dass Lisa Lernfortschritte macht, nimmt sie gar nicht war, weil sie nur noch die Leistungen der anderen Schüler vor Augen hat, die ihr deutlich voraus sind.

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Das alles hat sie tief verunsichert. Obwohl sie sich früher gern und oft am Unterricht beteiligt hat, möchte sie sich nun am liebsten gar nicht mehr daran beteiligen. Ein Glaubenssatz, der sich in ihrem Selbstbild verankert hat, lautet: „In Wirklichkeit kann ich in der Schule nichts und halte deswegen lieber den Mund“.

 

Da sie zunehmend weniger am Unterricht teilnimmt, macht sie auch zunehmend weniger Lernfortschritte, was ihre innere Überzeugung, zu nichts fähig zu sein, immer wieder bestätigt. Durch die vielen negativen Erfahrungen gewinnt Lisa den Eindruck, dass ihre Unfähigkeit eine nicht änderbare Tatsache ihrer Person ist, und dass es deswegen auch nichts bringen würde, sich an ihre Lehrkraft oder ihre Eltern zu wenden. Das hat in ihr eine so tiefe Verzweiflung ausgelöst, dass sie aufgehört hat zu sprechen, weil sowieso alles egal ist.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Eine treibende Kraft hinter Lisas negativer Selbstwahrnehmung ist der soziale Vergleich mit ihren Mitschülern. Eine Möglichkeit ist, in der Klasse andere Vergleichsmaßstäbe zu etablieren. Man könnte den Schülern beispielsweise anstatt der Rückmeldung, wo sie im Vergleich zu anderen stehen, Rückmeldungen zu ihrem individuellen Lernfortschritt geben. Das würde zum einen dem problematischen sozialen Vergleich Lisas mit den besseren Schülern entgegenwirken und zum anderen Lisa bewusst machen, dass sie durchaus Lernfortschritte macht.

 

Eine weitere treibende Kraft hinter Lisas negativer Selbstwahrnehmung ist ein fehlerhaftes Grundverständnis über das bei Menschen vorhandene Intelligenzpotential. Lisa ist offenbar der Überzeugung, dass es naturgegeben leistungsfähigere und weniger leistungsfähigere Menschen gibt. Letztere – zu welchen sie sich zählt – können prinzipiell kein höheres Leistungsniveau erreichen können, egal wie sehr sie sich anstrengen.

 

Hier könnte man versuchen, Lisa bewusst zu machen, dass das ein Irrglaube ist. Wie viele Studien zeigen, verfügt jedes Kind – außer beim Vorliegen einer geistigen Behinderung – über ein extrem hohes Leistungspotential, das nur manchmal aufgrund problematischer Lern- und Umweltbedingungen nicht abgerufen wird. Beispielsweise wurde in groß angelegten Studien demonstriert, dass sich die Leistung von normalen Schülern im Vergleich zu einem üblichen Frontalunterricht bei einer eins-zu-eins Betreuung um zwei Standardabweichungen verbessert, was dem Leistungsniveau hochbegabter Schüler entspricht.

 

Um Lisa das zu vermitteln, könnte folgendes Argument hilfreich sein: Eines der schwierigsten Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens lernen, ist unsere Sprache. Wie beim späteren Wissenserwerb auch, müssen hier Lautstrukturen mit der wahrgenommenen Struktur der erlebten Welt verknüpft werden, nur dass die Schwierigkeit hinzukommt, dass es hier niemanden gibt, der den Lerngegenstand didaktisch hilfreich aufdröselt.

 

Man kann also sagen: Sobald ein Kind dazu in der Lage war, sprechen zu lernen, kann es definitiv auch jeden beliebigen anderen Wissensinhalt erlernen. das Kind muss nur dazu motiviert sein und sich das zutrauen.

 

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2. Ein kontextabhängiges Selbst 

 

Die Funktionsweise unseres Selbstbild kann man sich vorstellen wie das Begriffsnetzwerk, das wir in uns abgespeichert haben, um uns die Welt zur Anschauung zu machen. Der einzige Unterschied ist, dass das Begriffsnetzwerk des Selbstbildes nicht die Welt zum Inhalt hat, sondern uns selbst.

 

Wie man beim begrifflichen Wissen zur Welt weiß, sind dort nicht alle Inhalte miteinander verknüpft: Beim Lösen von Matheaufgaben werden andere Begriffe aktiviert, als wenn man Fragen zur Grammatik in Deutsch beantwortet. Genau dasselbe Phänomen kann es auch beim Selbstbild geben: Wenn ein Schüler in der Klasse sitzt, können andere selbstbezogene Inhalte in seinem Selbstbild aktiviert sein, als wenn er sich zu Hause im Kreis seiner Familie befindet.

 

Eine solche Dynamik kann auch im Fall von Lisa eine Rolle spielen und zur Aufrechterhaltung ihres problematischen Verhaltens in der Schule beitragen. Im Rahmen eines Elterngesprächs stellt sich heraus, dass Lisas Eltern die Schilderungen ihres Schweigens in der Schule überhaupt nicht nachvollziehen können. Zu Hause erleben sie Lisa als eine lebhafte, kontaktfreudige und selbstbewusste Person. Die Eltern wären von selbst niemals darauf gekommen, dass Lisa in der Schule ein negatives Selbstbild und ein zurückgezogenes Sozialverhalten an den Tag legen könnte, und dass hier eine Unterstützung der Eltern hilfreich sein könnte.

 

Solche Widersprüche im Verhalten von Schülern in unterschiedlichen Kontexten hast Du bestimmt schon einmal erlebt. Lisa ist zuhause und in ihrer Freizeit eine ganz andere Person als im Unterricht. Das Schweigen ist Teil von Lisas Selbstbild und Verhaltensnetzwerk für den Kontext Schule. In Ihrer Freizeit hat sie andere Erfahrungen gemacht und es ist ein ganz anderer Teil ihres Selbstbildes und ihres Netzwerks an Verhaltensmöglichkeiten aktiviert.

 

Das Auftreten von Unterschieden im Denken, Erleben und Verhalten in unterschiedlichen Kontexten hat mit Lernerfahrungen in der Vergangenheit zu tun und ist meist kein Resultat einer bewussten Entscheidung. Oft ist es einem selbst sogar nicht einmal bewusst, dass man in unterschiedlichen Kontexten eine andere Person ist, weil man in jedem Kontext den Eindruck hat, der momentan aktivierte Teil des Selbstbilds würde die eigene Person vollständig abbilden.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Ein wichtiger Schritt ist zunächst überhaupt mitzubekommen, dass Lisa in anderen Kontexten ein anderes Selbstbild und Verhalten an den Tag legt. Hilfreich ist hier, sich die Gewohnheit zuzulegen, Schüler nicht nur im Unterricht, sondern auch außerhalb des Unterrichts (z.B. Pause, Schulfahrten, Schulfeste) genau zu beobachten und Informationen aus weiteren Quellen (Eltern, andere Lehrkräfte) einzuholen.

 

Macht man wie im Fall Lisa die Beobachtung, dass in anderen Kontexten kein problematisches Verhalten an den Tag gelegt wird, ist das ein positives Signal: Es handelt sich dann nicht um ein tieferliegendes, situationsübergreifendes Problem der Persönlichkeit, sondern das Problem tritt kontextgebunden auf. Lisa verfügt also bereits über die Fähigkeiten, die wünschenswert sind, nur kann sie das in einem bestimmten Kontext – dem Unterricht – noch nicht zeigen.

 

Man kann dann versuchen, Situationen zu schaffen, in welchen Lisas negative Anteile in ihrem Selbstbild weniger stark aktiviert werden und dafür die positiven Anteile in ihrem Selbstbild wachgerufen werden. Man kann zum Beispiel versuchen, mit Lisa in Situationen in Kontakt zu kommen, die nicht der klassischen Unterrichtssituation entsprechen, und die keinen Zwangscharakter haben. Beispiele könnten ein Wandertag, ein Klassenausflug oder eine Projektwoche sein.

 

Sollten sich in einer solchen Situation Lisas positive Anteile ihres Selbstbildes zeigen, kann das gemeinsame Wissen darum, dass die Lehrkraft um ihre eigentlichen Stärken weiß, eine Stütze für ihr Verhalten im Klassenkontext sein.

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Das Soziale Gehirn

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Wir Menschen sind nicht nur Einzelwesen, sondern auch soziale Wesen. Die in uns vorhandenen psychischen Kräfte der Verhaltenssteuerung sind also eingebunden in den Rahmen eines uns umgebenden sozialen Kollektivs, welches auf verschiedenen Wegen unser Erleben und Verhalten beeinflusst.

 

Zum einen prägt das uns umgebende soziale Kollektiv die Entwicklung der in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele und Wertmaßstäbe. Zum anderen existieren im uns umgebenden sozialen Kollektiv soziale Rollen, welche bestimmte Verhaltensanforderungen an uns stellen.

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Hinzu kommt noch ein weiterer Wirkfaktor: Wir verhalten uns anders, je nachdem, ob wir uns allein in einer Situation befinden, oder ob noch andere Personen anwesend sind, die für uns eine Wichtigkeit haben.

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Zum einen können sich innere Steuerungsmechanismen herausgebildet haben, welche in Abhängigkeit von einer anderen Person funktionieren. Die andere Person muss dabei nicht unbedingt anwesend sein. Die vorgestellte Gegenwart der anderen Person oder eine starke Präsenz in der Vergangenheit kann ausreichen, damit wir unser Verhalten an diesen anderen Personen ausrichten.

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Zum anderen kann sich in sozialen Gruppen eine Gruppenidentität herausbilden in Form von gemeinsam geteilten Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Zielen und Wertmaßstäben. Diese gemeinsam geteilte Gruppenidentität muss nicht notwendigerweise mit der individuellen Identität einer sich zur Gruppe zugehörig fühlenden Person übereinstimmen. Je nachdem, ob im Moment die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von Bedeutung ist oder nicht, kann also ein anderes Verhalten resultieren.

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Im besten Fall ist eine Person sich sowohl der sozialen Faktoren der Verhaltensbeeinflussung als auch ihrer inneren, individuellen Verhaltensmaßstäbe bewusst und schafft es, im Falle unterschiedlicher Verhaltensanforderungen diese sinnvoll miteinander zu integrieren.

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Im schlechten Fall kann eine Person sich der sozialen Faktoren der Verhaltensbeeinflussung nicht bewusst sein, sondern das daraus resultierende Verhalten als einen Ausdruck ihrer inneren individuellen Verhaltensmaßstäbe fehlinterpretieren. Die Person wird dadurch, ohne sich dessen bewusst zu sein, zu einem Spielball des sie umgebenden sozialen Kollektivs, was zur Vernachlässigung individueller Bedürfnisse und Ziele führen kann.

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Nachteilig ist auch, wenn eine Person ein Verhalten an den Tag legt, welches ausschließlich durch ihre inneren Verhaltensmaßstäbe geprägt ist und die Einflussfaktoren des sie umgebenden sozialen Kollektivs ignoriert. Eine solche Person hat Schwierigkeiten damit, soziale Beziehungen aufzubauen und sich in das sie umgebende soziale Kollektiv zu integrieren.

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Ausführlichere Informationen zum Thema soziales Gehirn findest Du im Bereich Wissen.

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Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen im Fall Lisa, die sich auf den Einfluss des sozialen Umfeldes beziehen: 

 

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1. Eine verlorengegangene sichere Bindung

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Insbesondere im Kindesalter kommt den Eltern eine wichtige Rolle innerhalb des psychischen Systems eines Kindes zu. Die Eltern stellen für das Kind eine „sichere Basis“ dar, welche dem Kind beim Erleben und Verhalten in Kontexten außerhalb des Elternhauses Sicherheit gibt.

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Für ein Kind sind viele Situationen noch neu, so dass das Kind noch nicht sicher weiß, ob bestimmte Verhaltensmechanismen zum gewünschten Ziel führen werden. Damit ein Kind verschiedene Verhaltensoptionen explorieren kann, braucht ein Kind die soziale Versicherung, dass im Falle des Schiefgehens eines Verhaltens Personen da sind, die sich um einen kümmern und einen trotzdem wertschätzen.

 

Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens zu finden sein. Lisas Eltern befinden sich nach einer langjährigen Beziehung aktuell in einer akuten Trennungsphase. Lisa leidet unter der angespannten und konfliktgeladenen Situation bei ihr Zuhause. Da ihre Eltern sehr unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der „richtigen“ Art der Erziehung haben, ist insbesondere Lisas Erziehung auch immer wieder Gegenstand der Ehestreitigkeiten.

 

Nach einem erneuten eskalierten Konflikt haben Lisas Eltern ihr nun mitgeteilt, dass sie sich trennen. Da weder Vater noch Mutter bisher eine bezahlbare neue Wohnung gefunden haben, leben sie aber zunächst weiter unter einem Dach. Lisa weiß aber bereits, dass demnächst ein Umzug anstehen wird.

 

Lisas bisherige Welt ist durch diese Ereignisse in ihren Grundfesten erschüttert. Ihr bisher so starkes Vertrauen, dass ihre Eltern für sie da sein werden, ist völlig verloren gegangen. Sie weiß nicht, ob sie Mama und Papa in Zukunft noch sehen wird und ob ihre Eltern nach der Trennung überhaupt noch etwas von ihr wissen wollen. Es fühlt sich für sie an, als würde das gesamte Gebäude, das ihr bisher Rückhalt und Sicherheit in der Welt draußen gegeben hat, in sich zusammenstürzen.

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In herausfordernden Situationen, die sie bisher im Vertrauen auf den Rückhalt durch ihre Eltern immer gut meistern konnte, fühlt sie sich plötzlich völlig allein gelassen und verloren. Die Vorstellung, dass Personen, denen sie bisher wie niemandem sonst auf der Welt vertraut hat, plötzlich solche für sie schmerzhaften Dinge tun, hat ihr Vertrauen in andere Menschen zutiefst erschüttert. Sie hat den Eindruck, niemandem mehr Vertrauen schenken zu können und hat deswegen angefangen, in sozialen Situationen zu schweigen.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

In einer solchen Situation, wo Kinder das Vertrauen in für ihr Leben zentrale Personen verloren haben, ist es wichtig, dass die Kinder Personen finden, welche diese verlorengegangene Rolle einnehmen und dem Kind den Eindruck vermitteln, dass man für es da ist und es als Person wertschätzt, egal was das Kind tut.

 

Wenn Kinder einen sehr starken Vertrauensverlust erleben mussten, kann es sogar sein, dass solche Kinder gerade deswegen ein schwieriges Verhalten an den Tag legen, weil sie damit die neue Bezugsperson testen wollen. Das Kind will mit einem solchen Verhalten sicherstellen, dass die neue Bezugsperson einen selbst dann nicht verstoßen wird, wenn man schlimme Dinge tut.

 

Als Lehrkraft bringt einen ein solches Verhalten oft an seine Grenzen. Wichtig ist hier zum einen, sich bewusst zu machen, dass das Kind nicht deswegen so handelt, weil es einem das Leben als Lehrkraft schwer machen will, sondern deswegen, weil es innerlich so verzweifelt ist. Zum anderen ist es wichtig, als Lehrkraft darauf hinzuwirken, dass man als eine Person erlebt wird, die absolut verlässlich ist, der man vertrauen kann und die einen wertschätzt, auch wenn man sich eigenartig benimmt.

 

Hinsichtlich der im Falle von Lisa verlorengegangenen „sicheren Basis“ einer ihr sehr nahestehenden Bezugsperson kann man als Lehrkraft diese Rolle nicht einnehmen. Allerdings kann man im Sinne einer Brückenfunktion dazu beitragen, dass Lisa wieder Vertrauen in andere Personen erlebt, und damit wieder in die Lage versetzt wird, engere Bindungen mit anderen Personen einzugehen.

 

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2. Neue soziale Interessen

 

Die Rolle des sozialen Umfeldes verändert sich im Laufe der Entwicklung eines Kindes. Besonders einschneidend ist die Veränderung im Zuge der Pubertät. Aufgrund der sozialen Reifung sind die Freunde plötzlich wichtiger als die Eltern und die Familie. Aufgrund der biologischen Reifung bekommen zwischenmenschliche Beziehungen eine neue Qualität. Plötzlich sind die anderen nicht mehr nur einfach Personen, mit denen man im Falle gemeinsamer Interessen vielleicht Freundschaften eingeht, sondern diese stellen zusätzlich potentielle Partner dar, mit denen man eine Liebesbeziehung eingehen könnte.

 

Diese psychischen und biologischen Entwicklungen können Probleme mit sich bringen. Man beginnt plötzlich darüber nachzudenken, wie man auf andere wirkt, und geht davon aus, dass die anderen das auch ständig tun. Man stellt sich die Frage, ob man attraktiv genug ist und mit den anderen mithalten kann. Die verbalen Rückmeldungen und nichtsprachlichen Signale von anderen werden diesbezüglich auf die Goldwaage gelegt, getragen von der Vorstellung, dass die Freunde, Mitschüler, Lehrkräfte und Eltern einen ständig beurteilen.

 

Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens zu finden sein. Lisa ist seit einige Zeit in der Pubertät, was ihre Sicht auf ihr eigenes Leben, sowie auf die Personen um sie herum fundamental verändert hat. Die Präsenz der Jungen in ihrer Klasse schüchtert Lisa auf einmal ein. Sie möchte auf keinen Fall einen „peinlichen“ Eindruck machen, vor allem nicht bei einem Jungen, in den sie ein bisschen verliebt ist.

 

Bevor sie in der Klasse etwas sagt, versucht sie nun vorher abzuwägen, ob das bei den anderen gut ankommen wird. Und bei jedem Satz, der dann aus ihrem Mund kommt, versucht sie der Mimik und Gestik der anderen zu entnehmen, ob diese das Gesagte auch wirklich gut finden. Inzwischen ist sie so sensibilisiert, dass sie oft gar nicht mehr weiß, was sie eigentlich sagen möchte, gleichzeitig fühlt sie sich zunehmend überfordert damit, abzuschätzen, was die anderen wohl gut finden werden.

 

Da Lisa eigentlich gar nicht mehr weiß, was sie selbst sagen möchte, und gleichzeitig immer unsicherer wird, was sie sagen müsste, um einen guten Eindruck bei den anderen hervorzurufen bzw. einen schlechten Eindruck zu vermeiden, sagt sie inzwischen lieber gar nichts mehr.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Bei Lisas Veränderung handelt es sich um einen Entwicklungsschritt, der notwendigerweise auf dem Weg zum Erwachsen werden durchlaufen werden muss. Deswegen wäre es der völlig falsche Weg, zu versuchen, ihr neu aufgetauchtes Interesse am anderen Geschlecht sowie ihren neuen Wunsch, in den Augen anderer attraktiv zu sein, zu verändern.

 

Stattdessen sollte das Ziel darin bestehen, daran zu arbeiten, dass die nach wie vor in ihr vorhandenen weiteren Interessen und Wünsche nicht in den Hintergrund treten und vernachlässigt werden. Gleichzeitig ist es wichtig erlebbar zu machen, dass für die empfundene persönliche Attraktivität nicht nur das Betrachten mit den vermuteten Maßstäben der anderen ausschlaggebend sein sollte, sondern vielmehr eigene innere Maßstäbe entwickelt werden sollten, welche die sich entwickelnde Persönlichkeit in ihrer gesamten Breite abbilden.

 

Beispielweise könnte es hilfreich sein, ein Projekt anzubieten, von dem man weiß, dass Lisa daran großes Interesse hat. Wichtig ist, sie dann bei der Umsetzung zu unterstützen, so dass sie sich als kompetent erlebt, und ihr erlebbar zu machen, dass das Projekt auch in den Augen der anderen einen hohen Wert hat.

 

Eine interessante Methode um die Bandbreite der in einem vorhandenen, aber manchmal selbst nicht wahrgenommenen Stärken erlebbar zu machen, ist die „Stärken-Dusche“. Alle Schüler bekommen einen Zettel, am besten aus etwas stärkerem Karton, mithilfe von Kreppband auf den Rücken geklebt. Danach bewegen sich alle durch den Raum und schreiben auf die Zettel der anderen etwas, was sie an der anderen Person gut finden. Um sicherzugehen, dass auch alle berücksichtigt werden, kann man vorher festlegen, dass jeder allen anderen eine Rückmeldung geben muss

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Das Kulturelle Gehirn

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Unser Erleben und Verhalten ist in einen kulturellen Rahmen eingebettet, welcher den Raum vorgibt, innerhalb dessen sich das Denkens, Werten, Fühlen und Handeln der Menschen bewegt, welche derselben Kultur angehören. Der Unterschied zu den bisherigen Einflussebenen ist, dass sich alle der zu einer gemeinsamen Kultur gehörenden Personen und Gruppen trotz ihrer jeweils individuell unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensmaßstäbe innerhalb desselben Erlebens- und Verhaltensraums bewegen.

 

Ein bekanntes Beispiel sind die unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensräume, innerhalb dessen sich die Personen in individualistischen Kulturen (z.B. Deutschland) und kollektivistischen Kulturen (z.B. asiatische Länder) bewegen. In individualistischen Kulturen ist der Raum des als sinnvoll erlebten Verhaltens schwerpunktmäßig dadurch bestimmt, was aus der Perspektive der individuellen Verhaltensmaßstäbe als sinnvoll erscheint, in kollektivistischen Kulturen dagegen dadurch, was aus der Perspektive der Verhaltensmaßstäbe des umgebenden sozialen Kollektivs als sinnvoll erscheint.

 

Der kulturelle Rahmen einer Person umfasst mehrere Ebenen unterschiedlicher Größenordnung. So teilen wir einen bestimmten gemeinsamen Erlebens- und Verhaltensraum mit den zur selben Nation gehörenden Personen („Nationalkultur“), mit den zur selben geografischen Region gehörenden Personen („Regionalkultur“) und mit den zu einer gemeinsamen Lebenswelt (z.B. Religion, Jugendkultur) gehörenden Personen („Subkultur“).

 

Da sich das Erleben und Verhalten aller der einer bestimmten Kultur angehörenden Personen innerhalb desselben Rahmens bewegt, kommt es einem oft gar nicht in den Sinn, dass es auch ein Erleben und Verhalten geben könnte, dass sich außerhalb des kulturell vorgegebenen Rahmens bewegt. Wenn man auf solches Erleben und Verhalten trifft, erscheint einem dieses als seltsam, sinnlos oder unplausibel. Aus diesem Grund sind kulturelle Einflüsse oft besonders schwer zu sehen.

 

Im besten Fall ist man sich der kulturellen Rahmung des eigenen Erlebens und Verhaltens bewusst, empfindet diesen Rahmen als sinnhaft und bewegt sich mit den eigenen Erlebens- und Verhaltensmaßstäben innerhalb dieses Rahmens. Gleichzeitig weiß man darum, dass Personen aus anderen Kulturen sich innerhalb eines anderen Rahmens bewegen können, welcher unter der Bedingung der Einhaltung universeller moralischer Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens akzeptiert und toleriert werden kann. Kulturelle Unterschiede werden dabei idealerweise als Chance begriffen, bisher nicht hinterfragte Sichtweisen zu reflektieren und gemeinsam neue Sichtweisen zu entwickeln.

 

Im schlechten Fall ist man sich der Kulturabhängigkeit des eigenen Erlebens und Verhaltens nicht bewusst. Das kann zur Konsequenz haben, dass man den durch die eigene Kultur vorgegebenen Erlebens- und Verhaltensraum als einzig sinnhafte Möglichkeit des Denkens, Wertens, Fühlens und Handelns wahrnimmt und Menschen aus anderen Kulturen, die sich in einem anderen Rahmen bewegen, nicht versteht und schlimmstenfalls abwertet.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der kulturellen Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens findest du im Bereich Wissen.

 

Es folgt nun eine mögliche Erklärung im Fall Lisa, die sich auf die kulturelle Beeinflussung des Verhaltens bezieht:

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1. Kulturbedingte Geschlechterrollen

 

Ein Aspekt, in Bezug auf welchen es große kulturelle Unterschiede gibt, sind die Erwartungshaltungen an das Verhalten von Männern und Frauen in bestimmten Situationen und im sozialen Miteinander – die sogenannten Geschlechterrollen. Die in einer Kultur vorhandenen Geschlechterrollen geben den Rahmen vor, innerhalb dessen sich das Verhalten von Männern bzw. Frauen nach den Maßstäben der Kultur bewegen sollte.

 

Ein Beispiel ist das in manchen Kulturen vorzufindende sogenannte traditionelle Rollenverständnis, demnach der Frau die Kindererziehung und der Haushalt zugeordnet werden, während der Mann für die finanzielle Versorgung der Familie zuständig ist. In Kulturen mit einem sogenannten egalitären Rollenverständnis spielt das Geschlecht dagegen für die Zuordnung bestimmter Aufgabenbereiche keine Rolle.

 

Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens zu finden sein. Lisa stammt aus einer Kultur, in welcher es eine klare Trennung der Geschlechter im öffentlichen Raum gibt. Öffentliche Diskussionen finden in ihrem Kulturkreis ausschließlich in reinen Männer- oder Frauenrunden statt. Ein gemeinsames Gespräch in einer geschlechtergemischten Runde ist absolut unüblich. Besonders als junge und unverheiratete Frau ist man angehalten, sich in einer solchen Runde nicht zu Wort zu melden.

 

Bisher stellte dieser kulturelle Hintergrund für Lisa keine Schwierigkeit in der Schule dar. Da sie die einzige Person aus ihrem Kulturkreis in der Klasse war und sie verstanden hatte, dass in der Schule eine andere Kultur vorherrscht und dementsprechend andere Regeln gelten, hat sie sich trotz der Anwesenheit von Jungen und männlichen Lehrkräften oft zu Wort gemeldet.

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Allerdings hat sich nun die Situation verändert. Seit kurzem gibt es einen neuen Mitschüler in der Klasse, von dem Lisa weiß, dass er zum gleichen Kulturkreis wie ihre Familie gehört. Die Anwesenheit dieses Mitschülers bringt Lisas bisherige Verhaltenssteuerung in der Klasse durcheinander. Plötzlich wird in ihrer Psyche wieder der in ihrem Kulturkreis gültige Verhaltensmaßstab aktiviert, dass man in geschlechtergemischten Gruppen als Frau sich nicht zu Wort meldet.

 

Diese Veränderung in ihrer Verhaltenssteuerung tritt ein, ohne dass sich der neue Mitschüler Lisa gegenüber in einer bestimmten Weise verhalten würde, oder von ihr ein bestimmtes Verhalten einfordern würde. Allein durch die bloße Anwesenheit einer Person, die zum selben Kulturkreis wie ihre Familie gehört, wird plötzlich in ihr der kulturbedingte Verhaltensmaßstab aktiviert, dass Frauen bei der Anwesenheit von männlichen Personen schweigen sollten.

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Was ist in diesem Fall zu tun?

 

Für den Umgang mit einer solchen Situation ist es zunächst wichtig sich klarzumachen, dass Lisas Schweigen durch Wert- und Verhaltensmaßstäbe hervorgerufen wird, die nicht innerhalb ihrer Person liegen, sondern von den zu ihrer Kultur gehörenden Personen gemeinsam geteilt werden. Lisas Verhalten resultiert also nicht aus ihrer individuellen Verhaltenssteuerung, sondern aus einer individuumsübergreifenden Verhaltenssteuerung.

 

Zu versuchen, allein auf der Ebene von Lisa zu arbeiten, um eine Änderung ihres Verhaltens herbeizuführen, ist also wenig zielführend. Gleichzeitig kann man als Lehrkraft nicht die Kultur ändern, der Lisa entstammt. Vielmehr gilt es sich hier bewusst zu machen, dass unsere kulturelle Herkunft ein wichtiger Bestandteil unserer Identität ist, und individuell als „richtig“ empfundene Maßstäbe in Wirklichkeit oft kulturabhängig sind.

 

Man kann allerdings versuchen, Lisa sowohl die individuell in ihr vorhandenen Verhaltensmaßstäbe als auch die aus ihrer Kultur stammenden überindividuellen Verhaltensmaßstäbe bewusst zu machen, und ihr so die Chance zu eröffnen, ein aus ihrer eigenen Perspektive sinnvolles Zusammenspiel dieser Kräfte zu entwickeln.

 

Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, auf der Ebene der Klasse die allgemeine Kulturgebundenheit unseres Erlebens und Verhaltens zu thematisieren. Neben der Anregung einer individuellen Reflexion der oft übersehenen Kulturgebundenheit des eigenen Verhaltens vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt des menschlichen Verhaltens, bietet das zusätzlich die Chance, bisher vielleicht als eigenartig erlebte Verhaltensweisen von Klassenkameraden aus anderen Kulturen besser zu verstehen.

 

Hilfreich könnte auch sein, den Schülern zu vermitteln, dass die Schule eine eigene Kultur darstellt, in welcher besondere Maßstäbe gelten, jenseits der Maßstäbe, die in den jeweiligen Kulturen gelten, aus der die Schüler entstammen. Dabei ist es wichtig, negative Zuschreibungen zu bestimmten kulturellen Maßstäben unbedingt zu vermeiden, sondern diese anzuerkennen, aber gleichzeitig klar zu vermitteln, dass die Schule einen eigenen Kulturraum darstellt, in dem eigene Maßstäbe gelten

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eNTWICKLUNGSPROBLEM ODER STÖRUNG

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Entwicklungsproblem versus Psychische Erkrankung

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Bei einem Verhalten wie Lisas konsequentem Schweigen kommt vielleicht unwillkürlich die Frage auf: Steckt dahinter womöglich eine psychische Erkrankung? Wäre dem so, dann würde der Versuch, Lisa zu helfen, nicht mehr in den Aufgabenbereich einer Lehrkraft fallen. Stattdessen müssen Fachexperten mit einer psychotherapeutischen Ausbildung hinzugezogen werden. Würde man es in einem solchen Fall als Aufgabe einer Lehrkraft ansehen, Lisa weiterzuhelfen, würde man hoher Wahrscheinlichkeit scheitern, was die Gefahr mit sich bringt, als Lehrkraft auszubrennen.

 

Aus diesem Grund ist es wichtig erkennen zu können, ob das Problemverhalten eines Heranwachsenden daraus resultiert, dass bestimmte Entwicklungsaufgaben, die auf dem Weg in Erwachsenenalter erfolgreich durchlaufen werden müssen, noch nicht zufriedenstellen gelöst werden konnten, oder aber daraus, dass bei einem Heranwachsenden eine psychische Erkrankung vorliegt. Im ersten Fall würde es in den Aufgabenbereich einer Lehrkraft fallen, dem Heranwachsenden weiterzuhelfen, im zweiten Fall nicht.

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Um dieser Frage nachgehen zu können, ist es hilfreich, zu wissen, ab wann man eigentlich von einer psychischen Erkrankung spricht. Zunächst ist es hier wichtig sich klarzumachen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen einer körperlichen und einer psychischen Erkrankung gibt. Bei körperlichen Erkrankungen ist es so, dass es meist eine spezifische krankmachende Ursache gibt, die außerhalb der Person liegt, und welche Beschwerden hervorruft, die für die Person selbst keinerlei Sinn machen. Man kann deswegen bei körperlichen Erkrankungen relativ klar zwischen „normal“ und krank“ unterscheiden.

 

Bei psychischen Erkrankungen ist das anders. Auch hier gibt es oft äußere Auslöser, aber die eigentliche Ursache der Erkrankung ist, dass einer der inneren Steuerungsmechanismen unserer Psyche aus dem Ruder gelaufen ist, und begonnen hat, ein Eigenleben zu führen. Die Krankheitsursache ist also ein Teil der Person selbst, und das dadurch bedingte problematische Verhalten macht aus der Perspektive des aus dem Ruder gelaufenen Steuerungsmechanismus durchaus Sinn.

 

Hier ist es dementsprechend deutlich schwerer zwischen „normal“ und „krank“ zu unterscheiden. Jede psychische Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund von Reifungsprozessen oder neuen Lebensumständen die bisher etablierten inneren Steuerungsmechanismen nicht mehr ausreichend sind, so dass es völlig normal ist, dass die Psyche zunächst außer Tritt gerät. Das Auftreten von „problematischem“ Erleben und Verhalten ist also ein notwendiges Element der psychischen Entwicklung von Menschen.

 

Die Schwierigkeit besteht nun darin, die Grenze festzumachen, ab wann eine Psyche so stark außer Tritt geraten ist, dass es nicht mehr als Ausdruck der normalen Entwicklung einer Person anzusehen ist, sondern eine psychischen Erkrankung vorliegt.

Kennzeichen für den Übergang von „normal“ zu „psychische Erkrankung“ können sein:

 

  • Wenn das problematische Verhalten über einen längeren Zeitraum gezeigt wird.

  • Wenn das problematische Verhalten einen hohen Schweregrad aufweist.

  • Wenn das problematische Verhalten für die Person keinerlei Funktion zu haben scheint.

  • Wenn das problematische Verhalten mit einem hohen Leidensdruck bei der betroffenen Person verbunden ist.

  • Wenn das problematische Verhalten eine starke Abweichung von der Norm darstellt.

 

Wichtig ist noch der Hinweis, dass das, was als „normal“ und „abnormal“ wahrgenommen wird, von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann und sich historisch wandeln kann. Beispielsweise kann ein Jugendlicher mit einem aus unserer kulturellen Perspektive gestörtem sozialen Distanzverhältnis in einer Kultur sehr gut zurechtkommen, in welcher der Abstand, den Menschen voneinander halten, geringer ist. Ein Beispiel für eine historische Veränderung ist das Streichen der Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankungen durch die WHO in Jahr 1990, wodurch viele Menschen, die zuvor noch als „psychisch krank“ galten, von nun an als „normal“ eingestuft wurden.

 

Der Fall von Lisa: Eine mögliche psychische Erkrankung?

 

Man kann den Übergang von „normal“ zu „psychische Erkrankung“ am Beispiel des Schweigens von Lisa verdeutlichen. Im diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen ist tatsächlich eine psychische Störung beschrieben, welche auf Lisas Fall zutreffen könnte: Der sogenannte „Mutismus“, welcher eine sehr seltene Kommunikationsstörung beschreibt, von der etwa zwei bis fünf Kinder von 10.000 Kindern betroffen sind. Als Leitsymptome werden genannt:

 

  • Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, wobei in anderen Situationen wiederum normale Sprechfähigkeit besteht.

  • Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation.

  • Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach der Einschulung beschränkt).

  • Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt.

 

Hinsichtlich der Ursachen geht man davon aus, dass es familiäre Dispositionen gibt, weil Kinder mit Mutismus öfters aus Familien kommen, wo mehrere Familienangehörige eine hohe Schüchternheit aufweisen. Eine wichtige Rolle scheinen traumatische Lebensereignisse zu spielen. Weiterhin tritt ein Mutismus oft in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Psychosen auf.

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Soziales_Gehirn
Kulturelles_Gehirn
Entwicklungsproblem oder Störung
Daniel

Daniel macht nicht mehr mit

Ein Lehrer berichtet uns von einem Schüler Daniel aus der 11. Klasse der gymnasialen Oberstufe. Im Fach Spanisch ist Daniel bereits im ersten Halbjahr versetzungsgefährdet, obwohl er in allen anderen Fächern im durchschnittlichen Notenspektrum ist. Mündlich, wie schriftlich, bewegt sich Daniel auf eine Gesamtnote von 0 Punkten im Abschnittszeugnis zu. Es gibt Angebote von Seite des Lehrers (eine angekündigte zusätzliche Ausfrage, um die Note zu retten) und von Seiten der Mitschülerschaft (spontane und schnelle Nachhilfe und Unterstützung) damit Daniel nicht aufgrund seiner Note in Spanisch durchfällt. Eine sehr einfach gehaltene Abfrage stellt für Daniel nun die letzte Chance dar, die er allerdings nicht nutzt und die Schule nach dem nicht bestandenen Halbjahr 11/1 abbricht.

 

Aus dieser Situation ergeben sich zahlreiche Fragen: Warum bricht Daniel die Schule ab? Wieso nutzt er die Angebote von Seiten des Lehrers und der Mitschüler und Mitschülerinnen nicht? Was könnte eine Lehrkraft noch tun, um Daniel zu unterstützen?

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UNSER vorgehen

Im Laufe unserer evolutionären Entwicklungsgeschichte haben sich in unserer Psyche verschiedene Ebenen der Verhaltenssteuerung entwickelt. Wir haben gewissermaßen mehrere „Gehirne“ in uns, die jeweils versuchen, unser Verhalten auf eine bestimmte Weise und nach bestimmten inneren Maßstäben zu beeinflussen.

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Will man also wirklich verstehen, warum eine Person ein bestimmtes Verhalten zeigt, muss man die verschiedenen „Gehirne“ der Person erkunden und sich jeweils auf die Suche nach möglichen Ursachen begeben. Man setzt sich also gewissermaßen verschiedene psychische Brillen auf, mit denen man jeweils andere mögliche Ursachen des Verhaltens sehen wird.

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Da all unsere „Gehirne“ immer gleichzeitig aktiv sind, gibt es so etwas wie die einzig wahre Ursache nicht. Vielmehr wird man mit jeder weiteren Brille die innere Welt der Person ein Stück weit besser verstehen und damit die Person zunehmend besser pädagogisch begleiten können.

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Hilfreich für diese Erkundung der verschiedenen „Gehirne“, sind die folgenden sechs Leitfragen, welche jeweils eine bestimmte Ebene der Psyche beleuchten:

 

  1. Welche Bedürfnisse könnten dem Verhalten zugrunde liegen?

  2. Welche Emotionen und Motive könnten die Ursache sein?

  3. Welche rationalen Vorstellungen und Ziele könnten hinter dem Verhalten stecken?

  4. Wie sieht das Selbstbild aus und welche Rolle könnte dieses spielen?

  5. Welche sozialen Hintergründe könnten in Bezug auf das Verhalten wichtig sein?

  6. Welche kulturellen Hintergründe könnten das Verhalten beeinflussen?

 

Wir werden im Folgenden beispielhaft den Fall Daniel auf den sechs verschiedenen Ebenen der Verhaltenssteuerung beleuchten und nach möglichen Erklärungen suchen. Das Ziel besteht dabei nicht darin, die im konkreten Fall des echten Daniel tatsächlich vorliegenden Ursachen zu beschreiben. Der Fall Daniel soll im Folgenden dazu dienen, die Funktionsweise unserer verschiedenen „Gehirne“ zu vermitteln. Deswegen werden auf jeder Ebene der Verhaltenssteuerung hypothetische Szenarien geschildert, die der Fall sein könnten, aber bei dem echten Daniel nicht gegeben sein müssen.

 

Wichtig: Die folgenden Ausführungen basieren auf der Annahme, dass es sich bei dem Verhalten im Fallbeispiel nicht um eine klinisch relevante Störung handelt. Genaueres hierzu kannst Du unter Entwicklungsproblem versus Psychische Erkrankung weiter unten erfahren.

Kräfte bei Daniel

Daniel_Kräfte
Psychologische Bewertung Daniel
Bedürfnisse_Blase.png

Bedürfnisgehirn

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Im Fall von Lisa kann das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Das Erleben von Kontrolle ist deswegen für Lisa so wichtig, weil Lisas Eltern sich aktuell in einer akuten Trennungsphase nach langjähriger Beziehung befinden, was für Lisa eine extreme Verletzung ihres Bedürfnisses nach Sicherheit bedeutet. Lisa leidet schon seit längerem unter der angespannten und konfliktgeladenen Situation bei ihr Zuhause. Immer wieder ist auch Lisas Erziehung Gegenstand der Ehestreitigkeiten. Nach einem erneuten eskalierten Konflikt haben Lisas Eltern ihr nun mitgeteilt, dass sie sich trennen. Da weder Vater noch Mutter bisher eine bezahlbare neue Wohnung gefunden haben, leben sie aber zunächst weiter unter einem Dach. Lisa weiß aber bereits, dass demnächst ein Umzug anstehen wird.

 

Lisas bisherige Welt ist durch die aktuellen Ereignisse in ihren Grundfesten erschüttert: Wie wird es mit ihrem Kinderzimmer weitergehen? Wird sie Mama und Papa in Zukunft noch sehen? Was wird sich noch alles verändern? Wollen beide Eltern nach der Trennung überhaupt noch etwas von ihr wissen? 

 

Das Schweigen von Lisa kann ein Versuch ihrer Psyche sein, das Erleben dieser großen Unsicherheiten durch das Herbeiführen von Situationen zu kompensieren, in welchen ihr Grundbedürfnis nach dem Erleben von Kontrolle erfüllt wird. Durch das Schweigen erlebt Lisa Kontrolle. Zum einen behält sie so die Kontrolle über das eigene Handeln, denn sie macht nicht das, was jemand anderes von ihr fordert. Zum anderen erlebt sie Kontrolle über das Handeln der anderen, denn immer wenn sie schweigt, richtet sich die Aufmerksamkeit der Lehrkräfte zunehmend auf sie. Und selbst wenn Schimpfen oder gar die Androhung von Zwang eintreten sollten, macht das Gegenüber genau das, was Lisa erwartet hat.

 

Dass dadurch andere Bedürfnisse wie das Erzielen von Leistungen vernachlässigt werden, wird von ihr als unwichtig erlebt, da die eintretenden Verhaltenskonsequenzen nur aus der Perspektive ihres übermäßig aktivierten Kontrollbedürfnisses beurteilt werden, welches alle anderen Bedürfnisse in den Hintergrund drängt.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?


Lisa vor diesem Hintergrund zu Gesprächen und Unterrichtsbeiträgen zu zwingen, würde bedeuten, ihr Bedürfnis nach Kontrollerleben noch mehr zu verletzen. Das würde Lisas Psyche in dieser für sie schwierigen Situation nur noch weiter destabilisieren. Wichtig ist stattdessen, Lisa in möglichst vielen Situationen ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln.

 

Dies kann auch funktionieren, ohne dass man dazu miteinander sprechen muss. Wenn Lisa erleben kann, dass es trotz der akuten Instabilität in ihrem Elternhaus noch Erwachsene gibt, auf die sie sich verlassen kann und die es gut mit ihr meinen, ist dies für Lisa eine wichtige Erfahrung. Man kann sich als Lehrkraft hier ruhig auf das individuelle Erfahrungswissen und die eigene Kreativität verlassen, wenn es um die Frage geht, wie man einer bestimmten Schülerin Sicherheit vermitteln und ein Kontrollerleben ohne Zwang ermöglichen kann.

 

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2. Ein verletztes Selbstwertbedürfnis

 

Ein weiteres zentrales Grundbedürfnis ist, sich als eine anerkannte und wertgeschätzte Person zu erleben. Macht ein Kind die Erfahrung, dass man aufgrund des gezeigten Verhaltens von anderen abgewertet wird, stellt das eine Verletzung dieses Bedürfnisses nach Selbstwert dar.

 

Ein Verhalten, mit dem diese Bedürfnisverletzung vermieden werden kann, ist, kein Verhalten mehr zu zeigen. Auch ein Sich-Nicht-Verhalten kann also ein Verhalten sein, mit welchem ein Bedürfnis erfüllt werden kann – in diesem Fall das Bedürfnis, eine Verletzung des Selbstwertes zu vermeiden.

 

Macht ein Kind nun in einer Situation wiederholt die Erfahrung, dass durch das Zeigen von keinem Verhalten ein Bedürfnis befriedigt wird, stellt sich ein Verhaltensmechanismus ein: Immer, wenn das Kind in eine vergleichbare Situation gerät, zieht es sich in sich zurück und zeigt kein Verhalten mehr. Das Kind erlebt dabei innerlich keine Angst, weil durch den etablierten Verhaltensmechanismus eine sichere Methode vorhanden ist, das Bedürfnis nach einer Vermeidung einer Selbstwertverletzung zu befriedigen.

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Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa hat in der Grundschulzeit zahlreiche negative Erfahrungen in ihrer Klasse machen müssen. Ihre Wortmeldungen wurden von der Klassenlehrerin vor der Klasse immer wieder sehr abwertend beurteilt, was dazu geführt hat, dass sich einige Klassenkammeraden oft über sie lustig gemacht haben, Das hat ihr Bedürfnis, sich als Person wertvoll zu fühlen, immer wieder tief verletzt.

Das Bedürfnisgehirn 

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Das älteste in uns vorhandene Verhaltenssteuerungssystem ist unser Bedürfnisgehirn. Ein bestimmtes Verhalten wird dort dann ausgelöst, wenn sich dieses Verhalten in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen hat, um ein bestimmtes Grundbedürfnis zu erfüllen. Ein Grundbedürfnis kann man sich so vorstellen, dass es einen inneren Soll-Wert gibt, zu dem unser Organismus ständig hinstreben möchte.

 

Das Besondere an dieser Verhaltenssteuerung ist, dass uns die Gründe, warum wir uns so verhalten, oft nicht bewusst sind: Unser Organismus löst hier ein Verhalten aus, nicht weil wir uns danach besser fühlen oder damit ein rationales Ziel erreichen wollen, sondern weil damit evolutionär bedingte innere Soll-Werte angestrebt werden. Da diese Art der Verhaltenssteuerung nicht den Maßstäben unserer bewusst wahrgenommenen Gefühle und rationalen Ziele folgt, sind auf dieser Ebene ausgelöste Verhaltensweisen oft besonders schwer zu verstehen.

 

Die Grundbedürfnisse des Menschen gehen von physiologischen Bedürfnissen (Essen, Trinken, Schlafen), über psychische Bedürfnisse (Autonomie, Kontrolle, Soziale Eingebundenheit) bis hin zu Bedürfnissen, die zur Entfaltung des Selbst wichtig sind (Selbstwert, Selbstverwirklichung). In Abhängigkeit von den gemachten Erfahrungen bilden sich im Laufe eines Lebens innere Bedürfnis-Verhaltens-Landkarten aus, welche in Situationen automatisch und schnell das Verhalten aktivieren, mit welchem in der Vergangenheit diese Bedürfnisse erfolgreich erfüllt werden konnten.

 

Im besten Fall sind die Bedürfnisse in einem Gleichgewicht – jedes Bedürfnis wird durch die vorhandene innere Bedürfnis-Verhaltens-Landkarte ausreichend befriedigt. Allerdings kann die Verhaltenssteuerung auch außer Tritt geraten.

 

Wenn ein Grundbedürfnis nicht erfüllt werden kann, kann es zur inneren Schieflage kommen. Es kann sein, dass dann alles Verhalten nur noch nach diesem einen Grundbedürfnis ausgerichtet wird, wodurch alle anderen Bedürfnisse vernachlässigt werden. Andererseits kann es sein, dass ein nicht erfüllbares Bedürfnis durch ein anderes Bedürfnis ersetzt wird und damit langfristig vernachlässigt wird. Da die bedürfnisbezogene Steuerung unserer bewussten Wahrnehmung nicht direkt zugänglich ist, wird das aber oft von den betroffenen Personen nicht bemerkt.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der bedürfnisbezogene Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Lisa, die auf der Ebene des Bedürfnisgehirns angesiedelt sind:

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1. Ein übermäßiges Kontrollbedürfnis
 

Ein zentrales Grundbedürfnis ist, sich als jemand zu erleben, der die Umwelt unter Kontrolle hat und diese in Richtung der eigenen Bedürfnisse, Emotionen und Ziele beeinflussen kann. Gerade bei Kindern, welche schlimme Erfahrungen durchmachen oder durchgemacht haben, findet sich oft ein übermäßig ausgeprägtes Bedürfnis nach dem Erleben von Kontrolle. Denn solange man sich als jemand erlebt, der die Umwelt

kontrolliert, werden die schlimmen Dinge nicht mehr passieren. 

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Um diese Verletzung ihres Selbstwertbedürfnisses nicht erleben zu müssen, hat sich in ihrer Psyche ein Verhaltensmechanismus ausgebildet: sie spricht in der Klasse nicht mehr. Durch diesen Verhaltensmechanismus hat sie sich eine Art „Schutzmantel“ zugelegt, welcher sie vor weiteren Abwertungen und Verletzungen ihres Bedürfnisses nach Selbstwert schützen soll.

 

Obwohl sie in ihrer neuen Klasse nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule bisher keinerlei demütigende Erfahrungen gemacht hat und weder die Lehrkraft noch ihre Mitschüler von ihren damaligen demütigenden Erfahrungen wissen, ist dieser Verhaltensmechanismus in ihrer Psyche nach wie vor etabliert.

Die damaligen Erfahrungen waren so schlimm, dass sie das Risiko, noch einmal so verletzt zu werden, auf keinen Fall eingehen will.

 

Dass dadurch andere Bedürfnisse wie das Erzielen guter mündlicher Leistungen verletzt werden, nimmt sie dafür in Kauf. Der Verhaltensmaßstab des Vermeidens einer möglichen Verletzung ihres Selbstwertes steht in ihrem Bedürfnissystem so stark im Vordergrund, dass die Verhaltensmaßstäbe anderer Bedürfnisse ihre Relevanz verloren haben.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Vor dem geschilderten Hintergrund immer wieder zu versuchen, Lisa zu aktiven Unterrichtsbeiträgen zu bewegen, stellt für die momentane Organisation ihres Bedürfnissystems eine Bedrohung dar. Man würde dadurch nur erreichen, dass ihr Nicht-Verhalten zusätzlich noch von der Emotion Angst begleitet wird, weil sie fürchtet, dass ihr etablierter Verhaltensmechanismus nicht ausreichen könnte, um eine drohende Selbstwertverletzung zu vermeiden. Man würde einer negativen Dynamik also nur noch eine weitere negative Dynamik hinzufügen.

 

Stattdessen kann man versuchen herauszufinden, welche konkreten Elemente der Situation in der Klasse das Nicht-Verhalten bei Lisa auslösen, und versuchen Situationen zu schaffen, welche diese Elemente nicht enthalten. Es könnte zum Beispiel sein, dass die Anwesenheit bestimmter Schüler ausschlaggebend für das Anspringen ihres Verhaltensmechanismus ist. Eine Möglichkeit wäre dann das Schaffen von Kleingruppen, die so aufgeteilt sind, dass Lisa in einer Gruppe ist, in welcher diese Schüler nicht dabei sind. Wichtig ist dann, dass man zusätzlich sicherstellt, dass Lisa in dieser neuen Situation die Erfahrung macht, dass ihre Wortbeiträge von den anderen nicht abgewertet, sondern wertgeschätzt werden.

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Emotionales Gehirn

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2. Die Emotion Scham

 

Eine weitere starke Emotion ist die Scham. Scham wird in Reaktion auf Situationen erlebt, in welchen man meint, bestimmten Normen, Werten und Ansprüchen aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit und Unfähigkeit nicht gerecht zu werden. Die Funktion der Emotion Scham besteht darin, die psychische Funktionsweise so einzustellen, dass Situationen möglichst vermieden werden, in welchen das empfundene eigene Versagen offenbar werden könnte.

 

Gerade im Jugendalter, wo die eigene Person zunehmend realistisch wahrgenommen wird und gleichzeitig die im sozialen Umfeld vorhandenen Werte für die Bewertung der eigenen Person immer wichtiger werden, kann die Emotion Scham in sozialen Situationen eine wichtige Rolle spielen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Erleben von Scham nicht leicht öffentlich eingestanden werden kann, weil dadurch das empfundene Versagen noch stärker offenbar werden würde.

 

Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa schämt sich für den Klang ihrer eigenen Stimme, da sie mit starkem Dialekt spricht. In der Grundschule war das bisher kein Problem, weil viele Kinder denselben Dialekt gesprochen haben. Doch in ihrer Klasse auf der weiterführenden Schule gibt es nun nur wenige andere Kinder, die ebenfalls Dialekt sprechen.

 

Als Lisa bemerkt hat, dass sie von einigen Kindern in ihrer neuen Klasse aufgrund ihrer dialektbedingten Sprachfärbung ausgelacht wird, hat sie begonnen, sich für ihren Dialekt zu schämen. Zunächst hat sie noch versucht, ihre dialektbedingte Sprachfärbung abzulegen, was ihr aber leider nicht gelungen ist.

 

Inzwischen ist es sogar schon so weit, dass allein der Gedanke daran, vor der Klasse sprechen zu müssen, die Emotion Scham in ihr aufwallen lässt.

 

Dies führt dazu, dass sie ihr Kopf rot wird, sie zu schwitzen beginnt, ihre Lippen sich verkrampfen und sie am liebsten sofort aus der Situation fliehen möchte. Lisa hat auch schon mehrmals die Erfahrung gemacht, dass sie in solchen Fällen sogar noch stärker in ihren Dialekt zurückfällt und sich noch mehr verhaspelt. Inzwischen ist ihr Schamgefühl in solchen Situationen so stark, dass sie das Gefühl hat, den Mund gar nicht mehr öffnen zu können und kein einziges Wort mehr sprechen zu können.

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Das emotionale Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des emotionalen Gehirns funktioniert so, dass unser Organismus je nach momentan erlebter Emotion auf allen Ebenen der Verhaltenssteuerung anders funktioniert. In Abhängigkeit von der erlebten Emotion denkt man anders, nimmt die Welt anders wahr, ist anders motiviert und anders körperlich aktiviert. Will man eine Person wirklich verstehen, muss man sich also bewusst machen, dass in einem bestimmten emotionalen Zustand immer nur der Anteil der eigenen Person gesehen wird, der durch die Emotion momentan in den Vordergrund gehoben wird.

 

Der Grund, warum in einer bestimmten Situation eine bestimmte Emotion ausgelöst wird, liegt in unserer Lebensgeschichte: Wenn in einer bestimmten Situation eine Emotion ausgelöst wird, wird diese mit den in der Situation vorhandenen Reizen verknüpft. Trifft man erneut auf die betroffenen Reize, geht unser Organismus wieder in den entsprechenden emotionalen Zustand. Da auch in der Situation vorhandene nebensächliche Reize mit Emotionen verknüpft werden, ist es manchmal nicht leicht zu verstehen, woher unsere emotionalen Reaktionen kommen.

 

Im Laufe eines Lebens bildet sich dadurch eine innere emotionale Landkarte aus, mit welcher unser Organismus ständig die Umgebung durchforstet. Wird ein Reiz entdeckt, der in der Vergangenheit mit einer Emotion verknüpft wurde, wird schnell und automatisch diese Emotion ausgelöst.

 

Im besten Fall sind die ausgelösten Emotionen für das Fortkommen der Person hilfreich. Im schlechten Fall werden Emotionen ausgelöst, welche dysfunktional sind und das Fortkommen beeinträchtigen. In diesem Fall ist es wichtig, über Strategien zu verfügen, dysfunktionale Emotionen zu regulieren. Fehlen geeignete Regulationsstrategien, besteht die Gefahr, von der Emotion überwältigt zu werden und ein Verhalten an den Tag zu legen, welches man im Nachhinein bereut.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der emotionalen Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Lisa, die auf der Ebene des emotionalen Gehirns angesiedelt sind:

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1. Die Emotion Trauer: 

 

Eine starke Emotion ist die Trauer. Trauer wird in Reaktion auf einen nicht mehr rückgängig machbaren Verlust einer Sache erlebt, welche in Bezug auf unsere inneren Wertmaßstäbe eine hohe Wichtigkeit hatte. Dabei kann es sich um den Verlust eines geliebten Menschen handeln, aber auch um den Verlust eines persönlich wichtigen Gegenstandes oder um den Abschied von einer als schön erlebten Lebensphase.

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Im Falle, dass ein Verlust die Kernelemente unserer bisherigen inneren psychischen Organisation betrifft, besteht eine der Funktionen der Trauer darin, unsere innere Funktionsweise zunächst so einzustellen, dass unsere Psyche nicht zusammenbricht. Bei sehr einschneidenden Verlusten kann deswegen das Erleben von Trauer als Schutzfunktion damit einhergehen, dass das schlimme Lebensereignis aus dem Bewusstsein verdrängt wird.

 

Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa trauert um ihre verstorbene Großmutter, zu der sie eine sehr innige Beziehung hatte. Lisas Eltern sind selbst mit dem Sterbeprozess überfordert und wissen nicht, wie sie über dieses Thema mit Lisa sprechen sollen. Sie wollen Lisa nicht belasten mit dem schwierigen Thema und Lisa spürt deutlich, dass dieses Thema ein Tabu ist.

 

Ohne eine elterliche Unterstützung, sieht Lisas Psyche keinen anderen Weg als zu versuchen, das schlimme Ereignis des Versterbens ihrer Großmutter nicht wahrhaben zu müssen und zu verdrängen. Bei Lisa äußert sich diese Verdrängung in einer Weigerung zu sprechen. Es liegt dabei die innere und unbewusste Überzeugung vor: „Solange ich nicht spreche, wird der Tod nicht Realität“.

 

Solche „Glaubenssätze“ muten einem als Erwachsenem vielleicht unverständlich an, können in der Welt eines Kindes aber durchaus eine Rolle spielen. In Lisas familiären Umfeld fehlt außerdem der Raum, über das schlimme Ereignis zu sprechen und gemeinsam zu trauern. Dies verstärkt Lisas Sprachlosigkeit und Verdrängung. Lisas Eltern sind stark mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt und sind vor allem froh, dass Lisa keine Probleme zu haben scheint.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Lisa vor dem beschriebenen Hintergrund zum Sprechen zu zwingen, hätte für ihre Trauerbewältigung negative Auswirkungen. Wichtig ist im Gegenteil, dass Lisa in dieser schwierigen Phase Stärkung und Unterstützung erfährt. Dafür muss nicht unbedingt das Thema Trauer direkt im Unterricht oder einem Gespräch aufgegriffen werden. Das allgemeine Ziel sollte sein, dass es Lisa ermöglicht wird zu trauern und einen Raum für ihre Trauer zu haben.

 

Zusätzlich kann man versuchen, Lisa emotional positive Erlebnisse im Rahmen der Schule zu ermöglichen. Dadurch, dass Sie erlebt, dass es eine Welt jenseits ihrer Trauer gibt, kann das eine positive Bewältigung des Trauerprozesses unterstützen.

 

Da Lisas Familie im Umgang mit der Trauer offensichtlich überfordert ist, kommt einem als Lehrkraft eine wichtige Rolle als Vertrauensperson zu. Wenn es gelingt, Lisa zu vermitteln, dass immer eine Tür bei schwierigen Themen für sie offensteht, steckt darin eine große Chance, dass sich Lisa öffnet. Wenn nötig, kann man auf der Basis dieses Vertrauens auch eine Brücke zu einer Ansprechperson aus dem Bereich der Schulpsychologie oder Kinder-/Jugendberatung sein.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Zwingt man Lisa trotz ihrer heftigen Scham dazu, sich vor der Klasse oder auch nur in einem Einzelgespräch mündlich zu äußern, wird dies für Lisa eine sehr unangenehme und schamerfüllte Situation sein. Ein solches

Erleben kann Lisas Scham schlimmstenfalls noch weiter verstärken.

 

Stattdessen ist es wichtig, sich zunächst ein genaueres Bild der Hintergründe ihrer Schamreaktion zu machen. Hier gilt es herauszufinden, ob Lisa innerlich dieselben Wertmaßstäbe hat wie ihr soziales Umfeld, und ob die diesbezüglichen von ihr wahrgenommenen eigenen Unzulänglichkeiten bei ihr objektiv vorhanden sind oder von ihr nur subjektiv so wahrgenommen werden.

 

Je nach Sachlage gibt es dann verschiedene Möglichkeiten. Auf der Ebene der Wertmaßstäbe kann man beispielsweise versuchen, Lisas innere Wertmaßstäbe stärker im sozialen Umfeld der Klasse zu verankern. Im Falle von nur subjektiv wahrgenommenen Unzulänglichkeiten kann man versuchen, ihre Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung zu verbessern, indem man ihr glaubhafte positive Rückmeldungen gibt. Wichtig ist bei solchen Maßnahmen, mit eher impliziten Strategien zu arbeiten, ohne explizit Bezug auf Lisas Schamreaktion zu nehmen.

 

Sollte sich Lisa in einem Gespräch vertraulich öffnen, kann man versuchen, ihr einfache Techniken zur Emotionsregulation wie zum Beispiel das Arbeiten mit der Körperhaltung zu vermitteln, welche ihr helfen können, eine einmal ausgelöste Scham schnell wieder in den Griff zu bekommen.

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Rationales Gehirn

Das Rationale Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des rationalen Gehirns basiert auf unserer Fähigkeit, sich Angelegenheiten mit Hilfe unserer Sprache innerlich zu veranschaulichen und sich darauf aufbauend rationale Ziele zu setzen, was man erreichen möchte.

 

In einem ersten Schritt macht man sich dabei mittels der in uns vorhandenen begrifflichen Vorstellung von der Welt ein Bild von der Situation und den sich daraus ergebenden möglichen Konsequenzen. In einem zweiten Schritt können wir dann abwägen, welche der Konsequenzen uns angesichts unserer rationalen Ziele und Wertmaßstäbe als wünschenswert bzw. nicht wünschenswert erscheinen. In einem dritten Schritt können wir schließlich einen Handlungsplan aufstellen, wie wir es schaffen könnten, die wünschenswerten Konsequenzen herzustellen bzw. die nicht wünschenswerten Konsequenzen zu vermeiden.

 

Da unser rationales Gehirn die Welt durch die Brille der in uns vorhandenen begrifflichen Vorstellungen von der Welt betrachtet, handelt es sich bei unseren rationalen Vorstellungen, Zielen und Wertmaßstäben nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Vorstellungen. Je nachdem, welche begrifflichen Vorstellungen eine Person im Laufe ihres Lebens erworben hat, wird dieselbe Situation unterschiedlich rational wahrgenommen und bewertet.

 

Im besten Fall spiegelt das rationale Bild die Situation so wider, dass es für das Fortkommen der Person hilfreich ist. Allerdings kann es auch sein, dass das rationale Bild einer Person bestimmte Facetten der Situation fehlerhaft oder gar nicht abbildet, oder dass Ziele verfolgt werden, welche für das Fortkommen hinderlich sind. Problematisch ist das insbesondere dann, wenn der subjektive Charakter unserer rationalen Vorstellungen nicht erkannt wird, sondern diese für die einzig mögliche „Wahrheit“ gehalten werden.

 

Da die rationalen Ziele einer Person nicht notwendigerweise mit den Verhaltenszielen des emotionalen Gehirns und des Bedürfnisgehirns übereinstimmen müssen, ist es für die Verhaltenssteuerung durch Ziele wichtig, dass Strategien vorhanden sind, mittels derer widersprüchliche emotionale oder bedürfnisbezogene Verhaltensziele im Moment kontrolliert und langfristig in Einklang gebracht werden können.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der rationalen Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgt nun eine mögliche Erklärung für den Fall Lisa, die auf der Ebene des rationalen Gehirns angesiedelt ist:

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1. Ein instrumentelles Ziel 

 

Bei den Zielen einer Person ist es wichtig, zwischen zwei Arten von Zielen zu unterscheiden: Zwischen den inhaltlichen Zielen, welche den Endzustand definieren, den man mit seinem Handeln zu erreichen versucht, und den instrumentellen Zielen, welche den Weg betreffen, den man gehen muss, um den gewünschten Endzustand zu erreichen.

 

Ausschlaggebend für die grundlegende Richtung des Verhaltens sind unsere inhaltlichen Ziele, weil diese den als wünschenswert beurteilten Endzustand festlegen. Die instrumentellen Ziele werden nur so lange verfolgt, wie das damit angestrebte inhaltliche Ziel verfolgt wird. Sobald das inhaltliche Ziel wegfällt, prägen auch die damit verbundenen instrumentellen Ziele unser Verhalten nicht mehr.

 

Im Fall von Lisa könnte das eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens sein. Lisa hat mit ihren Freundinnen gewettet, ob es ihr gelingt, eine Woche lang im Unterricht zu schweigen. Schon die kleinste mündliche Äußerung hat zur Folge, dass sie die Wette verliert. Diese Wette gilt für Lisa als Mutprobe, um in den begehrtesten Freudinnenkreis der Klasse aufgenommen zu werden. Lisas Verhalten resultiert also aus einem instrumentellen Ziel, das sie sich gesetzt hat, um das eigentlich dahinterstehende inhaltliche Ziel zu erreichen, zu einer bestimmten sozialen Gruppe dazuzugehören.

Da die Aufnahme in den begehrtesten Freudinnenkreis der Klasse für Lisa ein sehr wichtiges Ziel ist, steht für sie viel auf dem Spiel, weshalb sie sich einen genauen Plan zurechtgelegt hat: Wird sie aufgerufen, vermeidet sie Augenkontakt und sieht ganz ruhig zu Boden und zuckt nur mit den Schultern. Ohne Augenkontakt fällt ihr das Schweigen leichter. Außerdem meidet sie Situationen, die ein Einzelgespräch mit einer Lehrkraft zur Folge haben könnten. Auch das hilft ihr beim Erreichen ihres Ziels. Wird sie dennoch direkt angesprochen, hat sie sich überlegt, einfach gar nicht zuzuhören, indem sie innerlich andauernd „blablablabla“ ausspricht.

 

Um damit zurechtzukommen, dass sie mit ihrem Schweigen ihr Ziel, gute Noten zu bekommen, vernachlässigt, hat sie sich eingeredet, dass es sich ja nur um eine Woche handelt, so dass die vielleicht drohenden schlechten Noten nicht so ins Gewicht fallen werden. Dass sie sich in den Schweigesituationen innerlich komisch fühlt und das eigentlich doof findet, versucht sie damit zu überdecken, dass sie sich ausmalt, wie toll es sich anfühlen wird, wenn sie in den begehrtesten Freudinnenkreis der Klasse aufgenommen wird.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Wenn eine solche von der Zeit her begrenzte Verhaltensdynamik aktuell ihren Lauf nimmt, ist es relativ schwer, von außen etwas daran zu ändern. Binnen der kurzen Zeit von einer Woche ist es nahezu unmöglich, Lisas innere Verhaltensteuerung oder die auf der Ebene der Gruppe etablierten Wertmaßstäbe zu ändern.

 

Stattdessen macht es Sinn, die während dieser Woche fehlenden Beiträge von Lisa aus der Bewertung ihrer Leistung herauszunehmen, da ihr Nichtantworten ihr wahres Leistungspotential nicht widerspiegelt. Gleichzeitig kann man das Verhalten von Lisa vor dem Hintergrund betrachten, dass sich darin bei ihr vorhandene Stärken zeigen: Lisa beweist mit ihren zurechtgelegten Strategien zur Zielerreichung eine hervorragende Planungsfähigkeit, eine große Ausdauer und einen starken Willen. Das sind Ressourcen, die Lisa in ihrem Leben vermutlich noch an vielen Stellen weiterhelfen werden.

 

Wenn man solche Verhaltensdynamiken verhindern möchte, muss man präventiv denken. Hier ist es zum einen wichtig, die einzelnen Schüler und Schülerinnen vor dem Hintergrund der in der Klasse vorhandenen sozialen Gruppen zu betrachten. Stellt man fest, dass Schüler noch nicht in die in der Klasse vorhandenen Gruppen  integriert sind, kann man versuchen, mittels Maßnahmen zur Förderung der Gruppenbildung eine bessere Integration der betroffenen Schüler zu erreichen. Durch eine aktive Steuerung der für die Gruppenbildung relevanten Kriterien kann präventiv der Dynamik entgegengewirkt werden, dass die Gruppenzugehörigkeit an problematischen Kriterien festgemacht wird.

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Selbst-Gehirn

Das Selbst-Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des Selbst beruht darauf, dass wir uns mit Hilfe unseres rationalen Gehirns auch ein Bild von uns selbst machen können. Dabei lassen sich drei inhaltliche Bereiche abgrenzen: Man kann sich die Frage stellen, welche Bedürfnisse, Emotionen, Ziele und Wertmaßstäbe bei einem selbst im Vordergrund stehen (Selbstbild), ob man die Welt wie gewünscht beeinflussen kann (Selbstwirksamkeit) und ob man mit dem Bild von sich selbst und der empfundenen Selbstwirksamkeit zufrieden ist (Selbstwert).

 

Das Selbstbild enthält Vorstellungen darüber, wie man meint momentan zu sein, wie man meint, sich in Zukunft entwickeln zu können, und wie man eigentlich gerne sein würde. Wie bei unseren rationalen Vorstellungen über die Welt, handelt es sich auch bei unseren rationalen Vorstellungen und Bewertungen über uns selbst nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Vorstellungen.

 

Im besten Fall spiegelt das Selbstbild die in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele möglichst realistisch, umfassend und miteinander integriert wider.

 

Allerdings ist uns, wie bei unserem Wissen über die Welt, auch bei unserem Wissen über uns selbst im gegenwärtigen Moment immer nur ein kleiner Teilausschnitt davon bewusst. Dieser Tatsache ist man sich oft nicht bewusst, sondern man hat den Eindruck, man wäre nichts anderes als der momentan im Vordergrund stehende Teilausschnitt des Selbst, was die Gefahr mit sich bringt, weitere Facetten der eigenen Person zu vernachlässigen.

 

Hinsichtlich der Vorstellungen, wie man gerne sein würde, sind zwei unterschiedliche Maßstäbe zu unterscheiden. Man kann sich aus der Perspektive der eigenen inneren Maßstäbe betrachten (intrinsisch) oder aus der Perspektive der Maßstäbe anderer Personen (extrinsisch). Eine rein intrinsische Selbstteuerung kann hinsichtlich der Integration in eine soziale Gruppe problematisch sein, eine rein extrinsische Selbststeuerung bringt die Gefahr einer Vernachlässigung der eigentlichen inneren Bedürfnisse und Emotionen mit sich.

 

Hinsichtlich der empfundenen Selbstwirksamkeit ist sowohl eine Unterschätzung als auch eine zu starke Überschätzung der Beeinflussbarkeit der Welt dysfunktional. Eine leichte Überschätzung kann aber ein Entwicklungsmotor sein. Bei der Abschätzung der Selbstwirksamkeit spielt eine wichtige Rolle, ob man die Ursachen von Erfolgen bzw. Misserfolgen sich selbst oder äußeren Einflussfaktoren zuschreibt und die Ursachen als änderbar oder nicht änderbar wahrnimmt. Dysfunktional ist, wenn ein Misserfolg äußeren Ursachen zugeschrieben wird, die als nicht änderbar eingeschätzt werden.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der selbstbezogenen Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Lisa, die auf der Ebene des Selbst angesiedelt sind:

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1. Ein geringes Fähigkeitsselbstkonzept:

 

Ein wichtiger Einflussfaktor auf die schulische Leistung auf der Ebene des Selbst ist das sogenannte Fähigkeitsselbstkonzept, welches die subjektiven Überzeugungen hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten beschreibt. Das Fähigkeitsselbstkonzept enthält dabei sowohl Überzeugungen hinsichtlich der momentan vorhandenen Fähigkeiten als auch Überzeugungen hinsichtlich des Potentials der weiteren Entwicklung.

 

Das Fähigkeitsselbstkonzept speist sich aus den eigenen leistungsbezogenen Erfahrungen in der Vergangenheit, den Einschätzungen, die wir von als relevant erachteten Personen erhalten, sowie den Beobachtungen, die wir bei Personen machen, welche als einem ähnlich empfundenen werden.

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Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens angesiedelt sein. Vor ihrem Wechsel auf die

weiterführende Schule hatte Lisa in ihrer Grundschulklasse immer zu den Besten gehört und sich rege am Unterricht beteiligt. Nach ihrem Wechsel aufs Gymnasium ist sie nun in einer Klasse, wo viele ihrer Mitschüler deutlich besser als sie sind.

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Diese Erfahrung hat ihre bisherigen Überzeugungen zu ihren Fähigkeiten zutiefst erschüttert. Sie hat den subjektiven Eindruck, plötzlich gar nichts mehr zu können und zu den schlechtesten Schülern zu gehören. Gefördert wird ihr negativer Eindruck dadurch, dass ihre neue Lehrkraft die Noten dadurch festlegt, dass sie die Leistungen der Schülerinnen und Schüler miteinander vergleicht. Dass Lisa Lernfortschritte macht, nimmt sie gar nicht war, weil sie nur noch die Leistungen der anderen Schüler vor Augen hat, die ihr deutlich voraus sind.

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Das alles hat sie tief verunsichert. Obwohl sie sich früher gern und oft am Unterricht beteiligt hat, möchte sie sich nun am liebsten gar nicht mehr daran beteiligen. Ein Glaubenssatz, der sich in ihrem Selbstbild verankert hat, lautet: „In Wirklichkeit kann ich in der Schule nichts und halte deswegen lieber den Mund“.

 

Da sie zunehmend weniger am Unterricht teilnimmt, macht sie auch zunehmend weniger Lernfortschritte, was ihre innere Überzeugung, zu nichts fähig zu sein, immer wieder bestätigt. Durch die vielen negativen Erfahrungen gewinnt Lisa den Eindruck, dass ihre Unfähigkeit eine nicht änderbare Tatsache ihrer Person ist, und dass es deswegen auch nichts bringen würde, sich an ihre Lehrkraft oder ihre Eltern zu wenden. Das hat in ihr eine so tiefe Verzweiflung ausgelöst, dass sie aufgehört hat zu sprechen, weil sowieso alles egal ist.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Eine treibende Kraft hinter Lisas negativer Selbstwahrnehmung ist der soziale Vergleich mit ihren Mitschülern. Eine Möglichkeit ist, in der Klasse andere Vergleichsmaßstäbe zu etablieren. Man könnte den Schülern beispielsweise anstatt der Rückmeldung, wo sie im Vergleich zu anderen stehen, Rückmeldungen zu ihrem individuellen Lernfortschritt geben. Das würde zum einen dem problematischen sozialen Vergleich Lisas mit den besseren Schülern entgegenwirken und zum anderen Lisa bewusst machen, dass sie durchaus Lernfortschritte macht.

 

Eine weitere treibende Kraft hinter Lisas negativer Selbstwahrnehmung ist ein fehlerhaftes Grundverständnis über das bei Menschen vorhandene Intelligenzpotential. Lisa ist offenbar der Überzeugung, dass es naturgegeben leistungsfähigere und weniger leistungsfähigere Menschen gibt. Letztere – zu welchen sie sich zählt – können prinzipiell kein höheres Leistungsniveau erreichen können, egal wie sehr sie sich anstrengen.

 

Hier könnte man versuchen, Lisa bewusst zu machen, dass das ein Irrglaube ist. Wie viele Studien zeigen, verfügt jedes Kind – außer beim Vorliegen einer geistigen Behinderung – über ein extrem hohes Leistungspotential, das nur manchmal aufgrund problematischer Lern- und Umweltbedingungen nicht abgerufen wird. Beispielsweise wurde in groß angelegten Studien demonstriert, dass sich die Leistung von normalen Schülern im Vergleich zu einem üblichen Frontalunterricht bei einer eins-zu-eins Betreuung um zwei Standardabweichungen verbessert, was dem Leistungsniveau hochbegabter Schüler entspricht.

 

Um Lisa das zu vermitteln, könnte folgendes Argument hilfreich sein: Eines der schwierigsten Dinge, die wir im Laufe unseres Lebens lernen, ist unsere Sprache. Wie beim späteren Wissenserwerb auch, müssen hier Lautstrukturen mit der wahrgenommenen Struktur der erlebten Welt verknüpft werden, nur dass die Schwierigkeit hinzukommt, dass es hier niemanden gibt, der den Lerngegenstand didaktisch hilfreich aufdröselt.

 

Man kann also sagen: Sobald ein Kind dazu in der Lage war, sprechen zu lernen, kann es definitiv auch jeden beliebigen anderen Wissensinhalt erlernen. das Kind muss nur dazu motiviert sein und sich das zutrauen.

 

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2. Ein kontextabhängiges Selbst: 

 

Die Funktionsweise unseres Selbstbild kann man sich vorstellen wie das Begriffsnetzwerk, das wir in uns abgespeichert haben, um uns die Welt zur Anschauung zu machen. Der einzige Unterschied ist, dass das Begriffsnetzwerk des Selbstbildes nicht die Welt zum Inhalt hat, sondern uns selbst.

 

Wie man beim begrifflichen Wissen zur Welt weiß, sind dort nicht alle Inhalte miteinander verknüpft: Beim Lösen von Matheaufgaben werden andere Begriffe aktiviert, als wenn man Fragen zur Grammatik in Deutsch beantwortet. Genau dasselbe Phänomen kann es auch beim Selbstbild geben: Wenn ein Schüler in der Klasse sitzt, können andere selbstbezogene Inhalte in seinem Selbstbild aktiviert sein, als wenn er sich zu Hause im Kreis seiner Familie befindet.

 

Eine solche Dynamik kann auch im Fall von Lisa eine Rolle spielen und zur Aufrechterhaltung ihres problematischen Verhaltens in der Schule beitragen. Im Rahmen eines Elterngesprächs stellt sich heraus, dass Lisas Eltern die Schilderungen ihres Schweigens in der Schule überhaupt nicht nachvollziehen können. Zu Hause erleben sie Lisa als eine lebhafte, kontaktfreudige und selbstbewusste Person. Die Eltern wären von selbst niemals darauf gekommen, dass Lisa in der Schule ein negatives Selbstbild und ein zurückgezogenes Sozialverhalten an den Tag legen könnte, und dass hier eine Unterstützung der Eltern hilfreich sein könnte.

 

Solche Widersprüche im Verhalten von Schülern in unterschiedlichen Kontexten hast Du bestimmt schon einmal erlebt. Lisa ist zuhause und in ihrer Freizeit eine ganz andere Person als im Unterricht. Das Schweigen ist Teil von Lisas Selbstbild und Verhaltensnetzwerk für den Kontext Schule. In Ihrer Freizeit hat sie andere Erfahrungen gemacht und es ist ein ganz anderer Teil ihres Selbstbildes und ihres Netzwerks an Verhaltensmöglichkeiten aktiviert.

 

Das Auftreten von Unterschieden im Denken, Erleben und Verhalten in unterschiedlichen Kontexten hat mit Lernerfahrungen in der Vergangenheit zu tun und ist meist kein Resultat einer bewussten Entscheidung. Oft ist es einem selbst sogar nicht einmal bewusst, dass man in unterschiedlichen Kontexten eine andere Person ist, weil man in jedem Kontext den Eindruck hat, der momentan aktivierte Teil des Selbstbilds würde die eigene Person vollständig abbilden.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Ein wichtiger Schritt ist zunächst überhaupt mitzubekommen, dass Lisa in anderen Kontexten ein anderes Selbstbild und Verhalten an den Tag legt. Hilfreich ist hier, sich die Gewohnheit zuzulegen, Schüler nicht nur im Unterricht, sondern auch außerhalb des Unterrichts (z.B. Pause, Schulfahrten, Schulfeste) genau zu beobachten und Informationen aus weiteren Quellen (Eltern, andere Lehrkräfte) einzuholen.

 

Macht man wie im Fall Lisa die Beobachtung, dass in anderen Kontexten kein problematisches Verhalten an den Tag gelegt wird, ist das ein positives Signal: Es handelt sich dann nicht um ein tieferliegendes, situationsübergreifendes Problem der Persönlichkeit, sondern das Problem tritt kontextgebunden auf. Lisa verfügt also bereits über die Fähigkeiten, die wünschenswert sind, nur kann sie das in einem bestimmten Kontext – dem Unterricht – noch nicht zeigen.

 

Man kann dann versuchen, Situationen zu schaffen, in welchen Lisas negative Anteile in ihrem Selbstbild weniger stark aktiviert werden und dafür die positiven Anteile in ihrem Selbstbild wachgerufen werden. Man kann zum Beispiel versuchen, mit Lisa in Situationen in Kontakt zu kommen, die nicht der klassischen Unterrichtssituation entsprechen, und die keinen Zwangscharakter haben. Beispiele könnten ein Wandertag, ein Klassenausflug oder eine Projektwoche sein.

 

Sollten sich in einer solchen Situation Lisas positive Anteile ihres Selbstbildes zeigen, kann das gemeinsame Wissen darum, dass die Lehrkraft um ihre eigentlichen Stärken weiß, eine Stütze für ihr Verhalten im Klassenkontext sein.

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Soziales Gehirn

Das Soziale Gehirn

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Wir Menschen sind nicht nur Einzelwesen, sondern auch soziale Wesen. Die in uns vorhandenen psychischen Kräfte der Verhaltenssteuerung sind also eingebunden in den Rahmen eines uns umgebenden sozialen Kollektivs, welches auf verschiedenen Wegen unser Erleben und Verhalten beeinflusst.

 

Zum einen prägt das uns umgebende soziale Kollektiv die Entwicklung der in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele und Wertmaßstäbe. Zum anderen existieren im uns umgebenden sozialen Kollektiv soziale Rollen, welche bestimmte Verhaltensanforderungen an uns stellen.

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Wir Menschen sind nicht nur Einzelwesen, sondern auch soziale Wesen. Die in uns vorhandenen psychischen Kräfte der Verhaltenssteuerung sind also eingebunden in den Rahmen eines uns umgebenden sozialen Kollektivs, welches auf verschiedenen Wegen unser Erleben und Verhalten beeinflusst.

 

Zum einen prägt das uns umgebende soziale Kollektiv die Entwicklung der in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele und Wertmaßstäbe. Zum anderen existieren im uns umgebenden sozialen Kollektiv soziale Rollen, welche bestimmte Verhaltensanforderungen an uns stellen.

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Ausführlichere Informationen zum Thema soziales Gehirn findest Du im Bereich Wissen.

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Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen im Fall Lisa, die sich auf den Einfluss des sozialen Umfeldes beziehen: 

 

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1. Eine verlorengegangene sichere Bindung:
 

Insbesondere im Kindesalter kommt den Eltern eine wichtige Rolle innerhalb des psychischen Systems eines Kindes zu. Die Eltern stellen für das Kind eine „sichere Basis“ dar, welche dem Kind beim Erleben und Verhalten in Kontexten außerhalb des Elternhauses Sicherheit gibt.

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Für ein Kind sind viele Situationen noch neu, so dass das Kind noch nicht sicher weiß, ob bestimmte Verhaltensmechanismen zum gewünschten Ziel führen werden. Damit ein Kind verschiedene Verhaltensoptionen explorieren kann, braucht ein Kind die soziale Versicherung, dass im Falle des Schiefgehens eines Verhaltens Personen da sind, die sich um einen kümmern und einen trotzdem wertschätzen.

 

Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens zu finden sein. Lisas Eltern befinden sich nach einer langjährigen Beziehung aktuell in einer akuten Trennungsphase. Lisa leidet unter der angespannten und konfliktgeladenen Situation bei ihr Zuhause. Da ihre Eltern sehr unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der „richtigen“ Art der Erziehung haben, ist insbesondere Lisas Erziehung auch immer wieder Gegenstand der Ehestreitigkeiten.

 

Nach einem erneuten eskalierten Konflikt haben Lisas Eltern ihr nun mitgeteilt, dass sie sich trennen. Da weder Vater noch Mutter bisher eine bezahlbare neue Wohnung gefunden haben, leben sie aber zunächst weiter unter einem Dach. Lisa weiß aber bereits, dass demnächst ein Umzug anstehen wird.

 

Lisas bisherige Welt ist durch diese Ereignisse in ihren Grundfesten erschüttert. Ihr bisher so starkes Vertrauen, dass ihre Eltern für sie da sein werden, ist völlig verloren gegangen. Sie weiß nicht, ob sie Mama und Papa in Zukunft noch sehen wird und ob ihre Eltern nach der Trennung überhaupt noch etwas von ihr wissen wollen. Es fühlt sich für sie an, als würde das gesamte Gebäude, das ihr bisher Rückhalt und Sicherheit in der Welt draußen gegeben hat, in sich zusammenstürzen.

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In herausfordernden Situationen, die sie bisher im Vertrauen auf den Rückhalt durch ihre Eltern immer gut meistern konnte, fühlt sie sich plötzlich völlig allein gelassen und verloren. Die Vorstellung, dass Personen, denen sie bisher wie niemandem sonst auf der Welt vertraut hat, plötzlich solche für sie schmerzhaften Dinge tun, hat ihr Vertrauen in andere Menschen zutiefst erschüttert. Sie hat den Eindruck, niemandem mehr Vertrauen schenken zu können und hat deswegen angefangen, in sozialen Situationen zu schweigen.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

In einer solchen Situation, wo Kinder das Vertrauen in für ihr Leben zentrale Personen verloren haben, ist es wichtig, dass die Kinder Personen finden, welche diese verlorengegangene Rolle einnehmen und dem Kind den Eindruck vermitteln, dass man für es da ist und es als Person wertschätzt, egal was das Kind tut.

 

Wenn Kinder einen sehr starken Vertrauensverlust erleben mussten, kann es sogar sein, dass solche Kinder gerade deswegen ein schwieriges Verhalten an den Tag legen, weil sie damit die neue Bezugsperson testen wollen. Das Kind will mit einem solchen Verhalten sicherstellen, dass die neue Bezugsperson einen selbst dann nicht verstoßen wird, wenn man schlimme Dinge tut.

 

Als Lehrkraft bringt einen ein solches Verhalten oft an seine Grenzen. Wichtig ist hier zum einen, sich bewusst zu machen, dass das Kind nicht deswegen so handelt, weil es einem das Leben als Lehrkraft schwer machen will, sondern deswegen, weil es innerlich so verzweifelt ist. Zum anderen ist es wichtig, als Lehrkraft darauf hinzuwirken, dass man als eine Person erlebt wird, die absolut verlässlich ist, der man vertrauen kann und die einen wertschätzt, auch wenn man sich eigenartig benimmt.

 

Hinsichtlich der im Falle von Lisa verlorengegangenen „sicheren Basis“ einer ihr sehr nahestehenden Bezugsperson kann man als Lehrkraft diese Rolle nicht einnehmen. Allerdings kann man im Sinne einer Brückenfunktion dazu beitragen, dass Lisa wieder Vertrauen in andere Personen erlebt, und damit wieder in die Lage versetzt wird, engere Bindungen mit anderen Personen einzugehen.

 

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2. Neue soziale Interessen:

 

Die Rolle des sozialen Umfeldes verändert sich im Laufe der Entwicklung eines Kindes. Besonders einschneidend ist die Veränderung im Zuge der Pubertät. Aufgrund der sozialen Reifung sind die Freunde plötzlich wichtiger als die Eltern und die Familie. Aufgrund der biologischen Reifung bekommen zwischenmenschliche Beziehungen eine neue Qualität. Plötzlich sind die anderen nicht mehr nur einfach Personen, mit denen man im Falle gemeinsamer Interessen vielleicht Freundschaften eingeht, sondern diese stellen zusätzlich potentielle Partner dar, mit denen man eine Liebesbeziehung eingehen könnte.

 

Diese psychischen und biologischen Entwicklungen können Probleme mit sich bringen. Man beginnt plötzlich darüber nachzudenken, wie man auf andere wirkt, und geht davon aus, dass die anderen das auch ständig tun. Man stellt sich die Frage, ob man attraktiv genug ist und mit den anderen mithalten kann. Die verbalen Rückmeldungen und nichtsprachlichen Signale von anderen werden diesbezüglich auf die Goldwaage gelegt, getragen von der Vorstellung, dass die Freunde, Mitschüler, Lehrkräfte und Eltern einen ständig beurteilen.

 

Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens zu finden sein. Lisa ist seit einige Zeit in der Pubertät, was ihre Sicht auf ihr eigenes Leben, sowie auf die Personen um sie herum fundamental verändert hat. Die Präsenz der Jungen in ihrer Klasse schüchtert Lisa auf einmal ein. Sie möchte auf keinen Fall einen „peinlichen“ Eindruck machen, vor allem nicht bei einem Jungen, in den sie ein bisschen verliebt ist.

 

Bevor sie in der Klasse etwas sagt, versucht sie nun vorher abzuwägen, ob das bei den anderen gut ankommen wird. Und bei jedem Satz, der dann aus ihrem Mund kommt, versucht sie der Mimik und Gestik der anderen zu entnehmen, ob diese das Gesagte auch wirklich gut finden. Inzwischen ist sie so sensibilisiert, dass sie oft gar nicht mehr weiß, was sie eigentlich sagen möchte, gleichzeitig fühlt sie sich zunehmend überfordert damit, abzuschätzen, was die anderen wohl gut finden werden.

 

Da Lisa eigentlich gar nicht mehr weiß, was sie selbst sagen möchte, und gleichzeitig immer unsicherer wird, was sie sagen müsste, um einen guten Eindruck bei den anderen hervorzurufen bzw. einen schlechten Eindruck zu vermeiden, sagt sie inzwischen lieber gar nichts mehr.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Bei Lisas Veränderung handelt es sich um einen Entwicklungsschritt, der notwendigerweise auf dem Weg zum Erwachsen werden durchlaufen werden muss. Deswegen wäre es der völlig falsche Weg, zu versuchen, ihr neu aufgetauchtes Interesse am anderen Geschlecht sowie ihren neuen Wunsch, in den Augen anderer attraktiv zu sein, zu verändern.

 

Stattdessen sollte das Ziel darin bestehen, daran zu arbeiten, dass die nach wie vor in ihr vorhandenen weiteren Interessen und Wünsche nicht in den Hintergrund treten und vernachlässigt werden. Gleichzeitig ist es wichtig erlebbar zu machen, dass für die empfundene persönliche Attraktivität nicht nur das Betrachten mit den vermuteten Maßstäben der anderen ausschlaggebend sein sollte, sondern vielmehr eigene innere Maßstäbe entwickelt werden sollten, welche die sich entwickelnde Persönlichkeit in ihrer gesamten Breite abbilden.

 

Beispielweise könnte es hilfreich sein, ein Projekt anzubieten, von dem man weiß, dass Lisa daran großes Interesse hat. Wichtig ist, sie dann bei der Umsetzung zu unterstützen, so dass sie sich als kompetent erlebt, und ihr erlebbar zu machen, dass das Projekt auch in den Augen der anderen einen hohen Wert hat.

 

Eine interessante Methode um die Bandbreite der in einem vorhandenen, aber manchmal selbst nicht wahrgenommenen Stärken erlebbar zu machen, ist die „Stärken-Dusche“. Alle Schüler bekommen einen Zettel, am besten aus etwas stärkerem Karton, mithilfe von Kreppband auf den Rücken geklebt. Danach bewegen sich alle durch den Raum und schreiben auf die Zettel der anderen etwas, was sie an der anderen Person gut finden. Um sicherzugehen, dass auch alle berücksichtigt werden, kann man vorher festlegen, dass jeder allen anderen eine Rückmeldung geben muss

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Kulturelles Gehirn

Das Kulturelle Gehirn

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Unser Erleben und Verhalten ist in einen kulturellen Rahmen eingebettet, welcher den Raum vorgibt, innerhalb dessen sich das Denkens, Werten, Fühlen und Handeln der Menschen bewegt, welche derselben Kultur angehören. Der Unterschied zu den bisherigen Einflussebenen ist, dass sich alle der zu einer gemeinsamen Kultur gehörenden Personen und Gruppen trotz ihrer jeweils individuell unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensmaßstäbe innerhalb desselben Erlebens- und Verhaltensraums bewegen.

 

Ein bekanntes Beispiel sind die unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensräume, innerhalb dessen sich die Personen in individualistischen Kulturen (z.B. Deutschland) und kollektivistischen Kulturen (z.B. asiatische Länder) bewegen. In individualistischen Kulturen ist der Raum des als sinnvoll erlebten Verhaltens schwerpunktmäßig dadurch bestimmt, was aus der Perspektive der individuellen Verhaltensmaßstäbe als sinnvoll erscheint, in kollektivistischen Kulturen dagegen dadurch, was aus der Perspektive der Verhaltensmaßstäbe des umgebenden sozialen Kollektivs als sinnvoll erscheint.

 

Der kulturelle Rahmen einer Person umfasst mehrere Ebenen unterschiedlicher Größenordnung. So teilen wir einen bestimmten gemeinsamen Erlebens- und Verhaltensraum mit den zur selben Nation gehörenden Personen („Nationalkultur“), mit den zur selben geografischen Region gehörenden Personen („Regionalkultur“) und mit den zu einer gemeinsamen Lebenswelt (z.B. Religion, Jugendkultur) gehörenden Personen („Subkultur“).

 

Da sich das Erleben und Verhalten aller der einer bestimmten Kultur angehörenden Personen innerhalb desselben Rahmens bewegt, kommt es einem oft gar nicht in den Sinn, dass es auch ein Erleben und Verhalten geben könnte, dass sich außerhalb des kulturell vorgegebenen Rahmens bewegt. Wenn man auf solches Erleben und Verhalten trifft, erscheint einem dieses als seltsam, sinnlos oder unplausibel. Aus diesem Grund sind kulturelle Einflüsse oft besonders schwer zu sehen.

 

Im besten Fall ist man sich der kulturellen Rahmung des eigenen Erlebens und Verhaltens bewusst, empfindet diesen Rahmen als sinnhaft und bewegt sich mit den eigenen Erlebens- und Verhaltensmaßstäben innerhalb dieses Rahmens. Gleichzeitig weiß man darum, dass Personen aus anderen Kulturen sich innerhalb eines anderen Rahmens bewegen können, welcher unter der Bedingung der Einhaltung universeller moralischer Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens akzeptiert und toleriert werden kann. Kulturelle Unterschiede werden dabei idealerweise als Chance begriffen, bisher nicht hinterfragte Sichtweisen zu reflektieren und gemeinsam neue Sichtweisen zu entwickeln.

 

Im schlechten Fall ist man sich der Kulturabhängigkeit des eigenen Erlebens und Verhaltens nicht bewusst. Das kann zur Konsequenz haben, dass man den durch die eigene Kultur vorgegebenen Erlebens- und Verhaltensraum als einzig sinnhafte Möglichkeit des Denkens, Wertens, Fühlens und Handelns wahrnimmt und Menschen aus anderen Kulturen, die sich in einem anderen Rahmen bewegen, nicht versteht und schlimmstenfalls abwertet.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der kulturellen Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens findest du im Bereich Wissen.

 

Es folgt nun eine mögliche Erklärung im Fall Lisa, die sich auf die kulturelle Beeinflussung des Verhaltens bezieht:

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1. Kulturbedingte Geschlechterrollen

 

Ein Aspekt, in Bezug auf welchen es große kulturelle Unterschiede gibt, sind die Erwartungshaltungen an das Verhalten von Männern und Frauen in bestimmten Situationen und im sozialen Miteinander – die sogenannten Geschlechterrollen. Die in einer Kultur vorhandenen Geschlechterrollen geben den Rahmen vor, innerhalb dessen sich das Verhalten von Männern bzw. Frauen nach den Maßstäben der Kultur bewegen sollte.

 

Ein Beispiel ist das in manchen Kulturen vorzufindende sogenannte traditionelle Rollenverständnis, demnach der Frau die Kindererziehung und der Haushalt zugeordnet werden, während der Mann für die finanzielle Versorgung der Familie zuständig ist. In Kulturen mit einem sogenannten egalitären Rollenverständnis spielt das Geschlecht dagegen für die Zuordnung bestimmter Aufgabenbereiche keine Rolle.

 

Im Fall von Lisa könnte hier eine mögliche Erklärung ihres Verhaltens zu finden sein. Lisa stammt aus einer Kultur, in welcher es eine klare Trennung der Geschlechter im öffentlichen Raum gibt. Öffentliche Diskussionen finden in ihrem Kulturkreis ausschließlich in reinen Männer- oder Frauenrunden statt. Ein gemeinsames Gespräch in einer geschlechtergemischten Runde ist absolut unüblich. Besonders als junge und unverheiratete Frau ist man angehalten, sich in einer solchen Runde nicht zu Wort zu melden.

 

Bisher stellte dieser kulturelle Hintergrund für Lisa keine Schwierigkeit in der Schule dar. Da sie die einzige Person aus ihrem Kulturkreis in der Klasse war und sie verstanden hatte, dass in der Schule eine andere Kultur vorherrscht und dementsprechend andere Regeln gelten, hat sie sich trotz der Anwesenheit von Jungen und männlichen Lehrkräften oft zu Wort gemeldet.

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Allerdings hat sich nun die Situation verändert. Seit kurzem gibt es einen neuen Mitschüler in der Klasse, von dem Lisa weiß, dass er zum gleichen Kulturkreis wie ihre Familie gehört. Die Anwesenheit dieses Mitschülers bringt Lisas bisherige Verhaltenssteuerung in der Klasse durcheinander. Plötzlich wird in ihrer Psyche wieder der in ihrem Kulturkreis gültige Verhaltensmaßstab aktiviert, dass man in geschlechtergemischten Gruppen als Frau sich nicht zu Wort meldet.

 

Diese Veränderung in ihrer Verhaltenssteuerung tritt ein, ohne dass sich der neue Mitschüler Lisa gegenüber in einer bestimmten Weise verhalten würde, oder von ihr ein bestimmtes Verhalten einfordern würde. Allein durch die bloße Anwesenheit einer Person, die zum selben Kulturkreis wie ihre Familie gehört, wird plötzlich in ihr der kulturbedingte Verhaltensmaßstab aktiviert, dass Frauen bei der Anwesenheit von männlichen Personen schweigen sollten.

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Was ist in diesem Fall zu tun?

 

Für den Umgang mit einer solchen Situation ist es zunächst wichtig sich klarzumachen, dass Lisas Schweigen durch Wert- und Verhaltensmaßstäbe hervorgerufen wird, die nicht innerhalb ihrer Person liegen, sondern von den zu ihrer Kultur gehörenden Personen gemeinsam geteilt werden. Lisas Verhalten resultiert also nicht aus ihrer individuellen Verhaltenssteuerung, sondern aus einer individuumsübergreifenden Verhaltenssteuerung.

 

Zu versuchen, allein auf der Ebene von Lisa zu arbeiten, um eine Änderung ihres Verhaltens herbeizuführen, ist also wenig zielführend. Gleichzeitig kann man als Lehrkraft nicht die Kultur ändern, der Lisa entstammt. Vielmehr gilt es sich hier bewusst zu machen, dass unsere kulturelle Herkunft ein wichtiger Bestandteil unserer Identität ist, und individuell als „richtig“ empfundene Maßstäbe in Wirklichkeit oft kulturabhängig sind.

 

Man kann allerdings versuchen, Lisa sowohl die individuell in ihr vorhandenen Verhaltensmaßstäbe als auch die aus ihrer Kultur stammenden überindividuellen Verhaltensmaßstäbe bewusst zu machen, und ihr so die Chance zu eröffnen, ein aus ihrer eigenen Perspektive sinnvolles Zusammenspiel dieser Kräfte zu entwickeln.

 

Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, auf der Ebene der Klasse die allgemeine Kulturgebundenheit unseres Erlebens und Verhaltens zu thematisieren. Neben der Anregung einer individuellen Reflexion der oft übersehenen Kulturgebundenheit des eigenen Verhaltens vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt des menschlichen Verhaltens, bietet das zusätzlich die Chance, bisher vielleicht als eigenartig erlebte Verhaltensweisen von Klassenkameraden aus anderen Kulturen besser zu verstehen.

 

Hilfreich könnte auch sein, den Schülern zu vermitteln, dass die Schule eine eigene Kultur darstellt, in welcher besondere Maßstäbe gelten, jenseits der Maßstäbe, die in den jeweiligen Kulturen gelten, aus der die Schüler entstammen. Dabei ist es wichtig, negative Zuschreibungen zu bestimmten kulturellen Maßstäben unbedingt zu vermeiden, sondern diese anzuerkennen, aber gleichzeitig klar zu vermitteln, dass die Schule einen eigenen Kulturraum darstellt, in dem eigene Maßstäbe gelten

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Die Psychologische Bewertung

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Entwicklungsproblem versus Psychische Erkrankung

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Bei einem Verhalten wie Lisas konsequentem Schweigen kommt vielleicht unwillkürlich die Frage auf: Steckt dahinter womöglich eine psychische Erkrankung? Wäre dem so, dann würde der Versuch, Lisa zu helfen, nicht mehr in den Aufgabenbereich einer Lehrkraft fallen. Stattdessen müssen Fachexperten mit einer psychotherapeutischen Ausbildung hinzugezogen werden. Würde man es in einem solchen Fall als Aufgabe einer Lehrkraft ansehen, Lisa weiterzuhelfen, würde man hoher Wahrscheinlichkeit scheitern, was die Gefahr mit sich bringt, als Lehrkraft auszubrennen.

 

Aus diesem Grund ist es wichtig erkennen zu können, ob das Problemverhalten eines Heranwachsenden daraus resultiert, dass bestimmte Entwicklungsaufgaben, die auf dem Weg in Erwachsenenalter erfolgreich durchlaufen werden müssen, noch nicht zufriedenstellen gelöst werden konnten, oder aber daraus, dass bei einem Heranwachsenden eine psychische Erkrankung vorliegt. Im ersten Fall würde es in den Aufgabenbereich einer Lehrkraft fallen, dem Heranwachsenden weiterzuhelfen, im zweiten Fall nicht.

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Um dieser Frage nachgehen zu können, ist es hilfreich, zu wissen, ab wann man eigentlich von einer psychischen Erkrankung spricht. Zunächst ist es hier wichtig sich klarzumachen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen einer körperlichen und einer psychischen Erkrankung gibt. Bei körperlichen Erkrankungen ist es so, dass es meist eine spezifische krankmachende Ursache gibt, die außerhalb der Person liegt, und welche Beschwerden hervorruft, die für die Person selbst keinerlei Sinn machen. Man kann deswegen bei körperlichen Erkrankungen relativ klar zwischen „normal“ und krank“ unterscheiden.

 

Bei psychischen Erkrankungen ist das anders. Auch hier gibt es oft äußere Auslöser, aber die eigentliche Ursache der Erkrankung ist, dass einer der inneren Steuerungsmechanismen unserer Psyche aus dem Ruder gelaufen ist, und begonnen hat, ein Eigenleben zu führen. Die Krankheitsursache ist also ein Teil der Person selbst, und das dadurch bedingte problematische Verhalten macht aus der Perspektive des aus dem Ruder gelaufenen Steuerungsmechanismus durchaus Sinn.

 

Hier ist es dementsprechend deutlich schwerer zwischen „normal“ und „krank“ zu unterscheiden. Jede psychische Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund von Reifungsprozessen oder neuen Lebensumständen die bisher etablierten inneren Steuerungsmechanismen nicht mehr ausreichend sind, so dass es völlig normal ist, dass die Psyche zunächst außer Tritt gerät. Das Auftreten von „problematischem“ Erleben und Verhalten ist also ein notwendiges Element der psychischen Entwicklung von Menschen.

 

Die Schwierigkeit besteht nun darin, die Grenze festzumachen, ab wann eine Psyche so stark außer Tritt geraten ist, dass es nicht mehr als Ausdruck der normalen Entwicklung einer Person anzusehen ist, sondern eine psychischen Erkrankung vorliegt.

Kennzeichen für den Übergang von „normal“ zu „psychische Erkrankung“ können sein:

 

  • Wenn das problematische Verhalten über einen längeren Zeitraum gezeigt wird.

  • Wenn das problematische Verhalten einen hohen Schweregrad aufweist.

  • Wenn das problematische Verhalten für die Person keinerlei Funktion zu haben scheint.

  • Wenn das problematische Verhalten mit einem hohen Leidensdruck bei der betroffenen Person verbunden ist.

  • Wenn das problematische Verhalten eine starke Abweichung von der Norm darstellt.

 

Wichtig ist noch der Hinweis, dass das, was als „normal“ und „abnormal“ wahrgenommen wird, von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann und sich historisch wandeln kann. Beispielsweise kann ein Jugendlicher mit einem aus unserer kulturellen Perspektive gestörtem sozialen Distanzverhältnis in einer Kultur sehr gut zurechtkommen, in welcher der Abstand, den Menschen voneinander halten, geringer ist. Ein Beispiel für eine historische Veränderung ist das Streichen der Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankungen durch die WHO in Jahr 1990, wodurch viele Menschen, die zuvor noch als „psychisch krank“ galten, von nun an als „normal“ eingestuft wurden.

 

Der Fall von Lisa: Eine mögliche psychische Erkrankung?

 

Man kann den Übergang von „normal“ zu „psychische Erkrankung“ am Beispiel des Schweigens von Lisa verdeutlichen. Im diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen ist tatsächlich eine psychische Störung beschrieben, welche auf Lisas Fall zutreffen könnte: Der sogenannte „Mutismus“, welcher eine sehr seltene Kommunikationsstörung beschreibt, von der etwa zwei bis fünf Kinder von 10.000 Kindern betroffen sind. Als Leitsymptome werden genannt:

 

  • Andauernde Unfähigkeit, in bestimmten Situationen zu sprechen, wobei in anderen Situationen wiederum normale Sprechfähigkeit besteht.

  • Die Störung behindert die schulischen oder beruflichen Leistungen oder die soziale Kommunikation.

  • Die Störung dauert mindestens einen Monat (und ist nicht auf den ersten Monat nach der Einschulung beschränkt).

  • Die Unfähigkeit zu sprechen ist nicht durch fehlende Kenntnisse der gesprochenen Sprache bedingt oder dadurch, dass der Betroffene sich in dieser Sprache nicht wohl fühlt.

 

Hinsichtlich der Ursachen geht man davon aus, dass es familiäre Dispositionen gibt, weil Kinder mit Mutismus öfters aus Familien kommen, wo mehrere Familienangehörige eine hohe Schüchternheit aufweisen. Eine wichtige Rolle scheinen traumatische Lebensereignisse zu spielen. Weiterhin tritt ein Mutismus oft in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Psychosen auf.

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Das Bedürfnisgehirn 

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Das älteste in uns vorhandene Verhaltenssteuerungssystem ist unser Bedürfnisgehirn. Ein bestimmtes Verhalten wird dort dann ausgelöst, wenn sich dieses Verhalten in der Vergangenheit als erfolgreich erwiesen hat, um ein bestimmtes Grundbedürfnis zu erfüllen. Ein Grundbedürfnis kann man sich so vorstellen, dass es einen inneren Soll-Wert gibt, zu dem unser Organismus ständig hinstreben möchte.

 

Das Besondere an dieser Verhaltenssteuerung ist, dass uns die Gründe, warum wir uns so verhalten, oft nicht bewusst sind: Unser Organismus löst hier ein Verhalten aus, nicht weil wir uns danach besser fühlen oder damit ein rationales Ziel erreichen wollen, sondern weil damit evolutionär bedingte innere Soll-Werte angestrebt werden. Da diese Art der Verhaltenssteuerung nicht den Maßstäben unserer bewusst wahrgenommenen Gefühle und rationalen Ziele folgt, sind auf dieser Ebene ausgelöste Verhaltensweisen oft besonders schwer zu verstehen.

 

Die Grundbedürfnisse des Menschen gehen von physiologischen Bedürfnissen (Essen, Trinken, Schlafen), über psychische Bedürfnisse (Autonomie, Kontrolle, Soziale Eingebundenheit) bis hin zu Bedürfnissen, die zur Entfaltung des Selbst wichtig sind (Selbstwert, Selbstverwirklichung). In Abhängigkeit von den gemachten Erfahrungen bilden sich im Laufe eines Lebens innere Bedürfnis-Verhaltens-Landkarten aus, welche in Situationen automatisch und schnell das Verhalten aktivieren, mit welchem in der Vergangenheit diese Bedürfnisse erfolgreich erfüllt werden konnten.

 

Im besten Fall sind die Bedürfnisse in einem Gleichgewicht – jedes Bedürfnis wird durch die vorhandene innere Bedürfnis-Verhaltens-Landkarte ausreichend befriedigt. Allerdings kann die Verhaltenssteuerung auch außer Tritt geraten.

 

Wenn ein Grundbedürfnis nicht erfüllt werden kann, kann es zur inneren Schieflage kommen. Es kann sein, dass dann alles Verhalten nur noch nach diesem einen Grundbedürfnis ausgerichtet wird, wodurch alle anderen Bedürfnisse vernachlässigt werden. Andererseits kann es sein, dass ein nicht erfüllbares Bedürfnis durch ein anderes Bedürfnis ersetzt wird und damit langfristig vernachlässigt wird. Da die bedürfnisbezogene Steuerung unserer bewussten Wahrnehmung nicht direkt zugänglich ist, wird das aber oft von den betroffenen Personen nicht bemerkt.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der bedürfnisbezogene Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Daniel, die auf der Ebene des Bedürfnisgehirns angesiedelt sind:

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1. Ein verletztes Kompetenzbedürfnis

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Ein zentrales Grundbedürfnis ist es, sich als jemand zu erleben, der die zum Erreichen von angestrebten Zielzuständen nötigen Verhaltensweisen erfolgreich ausführen kann. Erweist sich das eigene Verhalten als erfolglos, stellt das eine Verletzung dieses Bedürfnisses dar, was vor allem dann von hoher Trageweite ist, wenn das angestrebte Ziel einen hohen Wert hat, weil man sich dann als jemand erlebt, der unfähig ist, die wichtigen Ziele im Leben zu erreichen.

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Eine Möglichkeit, wie eine solche Bedürfnisverletzung vermieden werden kann, ist das Abwerten oder gar Aufgeben des angestrebten Ziels zugunsten anderer Ziele. Dadurch werden Situationen vermieden, in denen Verhaltensweisen gezeigt werden müssen, in Bezug auf welche man sich als unfähig erlebt.

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Gerade die Schule stellt hinsichtlich solcher Dynamiken ein Risikofeld dar, weil Schülerinnen und Schüler permanent vor neue Herausforderungen gestellt werden, die sie mit ihren bisherigen Verhaltensweisen noch nicht meistern können. Das Risiko ist insbesondere dann hoch, wenn Wissen oder Fähigkeiten zu erwerben sind, welche zunehmend komplexer werden. Verpasst eine Schülerin oder ein Schüler am Anfang einen eigentlich einfach zu meisternden Schritt, kann sich eine Schülerin oder ein Schüler später als unfähig erleben, obwohl der anfängliche Schritt eigentlich leicht zu meistern gewesen wäre.

 Im Fall von Daniel kann hier eine mögliche Erklärung liegen. Spanisch interessierte Daniel zunächst wenig und er versäumte es von Anfang an, Vokabeln und Grammatik zu lernen. In den ersten Wochen dachte er immer noch, dass es ja kein Problem wäre, das Verpasste schnell nachzuholen. Aber mit der Zeit wurde sein Lernrückstand so groß, dass ihm die im Unterricht behandelten Spanischinhalte äußerst schwer und nicht meisterbar vorkamen.

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Eigenartigerweise schien aber nur er Probleme mit Spanisch zu haben, weil seine Mitschülerinnen und Mitschüler die Spanischaufgaben relativ problemlos zu meistern schienen. Im Unterricht versuchte er zunächst noch, seine Unfähigkeit in Spanisch vor den anderen zu kaschieren. Er beschäftigte sich im Spanischunterricht heimlich mit anderen Dingen, und zwar so, dass es die anderen merken konnten, um damit zu zeigen, dass Spanisch ja eigentlich total einfach sei, er es aber völlig langweilig finde.

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Aber mit jeder weiteren Spanischstunde wurde seine Unfähigkeit zunehmend mehr offengelegt, so dass seine Strategie des Kaschierens zunehmend weniger funktionierte. Gleichzeitig konnte er den anderen aber auch nicht eingestehen, dass das langweilig finden von Spanisch nur vorgeschoben war. Deswegen begann er damit, das Ziel, Spanisch zu lernen, zunehmend mehr innerlich abzuwerten.

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Die Angebote einer angekündigten zusätzlichen mündlichen Abfrage zur Rettung der Note und einer spontanen Nachhilfe durch Mitschülerinnen und Mitschüler sind angesichts seiner empfundenen fundamentalen Unfähigkeit in seinen Augen nutzlos und machen ihm seine riesigen Defizite in Spanisch im Vergleich zu allen anderen nur noch schmerzlicher bewusst. Als letzten Ausweg zum Schutz seines verletzten Kompetenzbedürfnisses sieht er schließlich nur noch die Möglichkeit, jegliche Hilfe abzulehnen und die Schule abzubrechen, was ihm eine „Minimalform“ von Kompetenzerleben verschafft: Er steuert seinen eigenen Misserfolg.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

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Daniels Lehrkraft macht ihm mehrere sehr wohlwollende Angebote. Auch an Unterstützung durch den Klassenverbund mangelt es nicht. Trotz der guten Absicht haben diese Angebote wie oben beschrieben bei Daniel eine gegenteilige Wirkung: Sie führen ihm sein Defizit umso deutlicher vor Augen. Somit zeigt dieses Beispiel, wie wichtig zunächst eine gute Analyse von Daniels Situation ist, bevor man sich für eine Intervention wie ein angekündigtes Ausfragen oder Nachhilfe von Mitschülerinnen oder Mitschülern entscheidet.

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Ein möglicher Weg wäre, Daniel dabei zu helfen, den Weg in Richtung Spanisch lernen von Beginn an noch einmal neu zu gehen und ihm erlebbar zu machen, dass sein Gefühl der Unfähigkeit nichts mit einem grundsätzlich fehlenden Potential zu tun hat. Wichtig ist dabei, dass er die Erfahrung machen kann, dass jeder einzelne Lernschritt in Wirklichkeit eigentlich einfach ist, und seine erlebte Unfähigkeit nur daher kommt, dass er die anfänglichen Schritte bisher noch nicht gegangen ist.

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Ein solcher pädagogischer Weg ist umso schwerer, je länger sich solche unguten Entwicklungen aufgebaut haben. Deswegen ist ein frühzeitiges Erkennen und präventives Verhindern des Entstehens solcher negativer Lernbiografien von hoher Wichtigkeit. Um diesem Ziel näherzukommen, braucht es zum einen didaktisches Erfahrungswissen als Lehrkraft und zum anderen einen guten Kontakt mit der Schülerin oder dem Schüler.

 

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2. Ein übermäßiges Autonomiebedürfnis

 

Ein weiteres Grundbedürfnis ist es, sich als jemand zu erleben, der seine Ziele und sein Handeln selbst bestimmen kann. In der Entwicklungsphase des Jugendalters steht das Grundbedürfnis nach Autonomie besonders stark im Vordergrund. Heranwachsende wollen sich in diesem Alter als jemand erleben, dessen Leben nicht mehr wie bisher durch erwachsene Personen wie Eltern oder Lehrkräfte fremdbestimmt wird, sondern als jemand, der sein Leben selbstverantwortlich in die Hand nimmt und nach eigenen Maßstäben gestaltet. Der entwicklungspsychologische Hintergrund ist, dass dadurch die Phase der Abhängigkeit von der Fürsorge Erwachsener verlassen wird und die Fähigkeit entwickelt wird, selbstständig zu (über-)leben.

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Im Fall von Daniel kann hier eine mögliche Erklärung für sein Verhalten liegen. Das Grundbedürfnis nach Autonomie steht in Daniels Psyche entwicklungsbedingt stark im Vordergrund. Gerade die Schule stellt aber einen Ort dar, an welchem dieses Bedürfnis aufgrund der von außen vorgegebenen Leistungsziele und Wertmaßstäben nicht einfach zu erfüllen ist. Ausschlaggebend für eine Befriedigung des Autonomiebedürfnisses wäre, dass ein Heranwachsender die von außen vorgegebenen Ziele und Maßstäbe innerlich übernimmt. Geschieht das nicht, erleben Heranwachsende die Schule als eine Verletzung ihres Autonomiebedürfnisses.

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Um diese Verletzung ihres Selbstwertbedürfnisses nicht erleben zu müssen, hat sich in ihrer Psyche ein Verhaltensmechanismus ausgebildet: sie spricht in der Klasse nicht mehr. Durch diesen Verhaltensmechanismus hat sie sich eine Art „Schutzmantel“ zugelegt, welcher sie vor weiteren Abwertungen und Verletzungen ihres Bedürfnisses nach Selbstwert schützen soll.

 

Obwohl sie in ihrer neuen Klasse nach dem Wechsel auf die weiterführende Schule bisher keinerlei demütigende Erfahrungen gemacht hat und weder die Lehrkraft noch ihre Mitschüler von ihren damaligen demütigenden Erfahrungen wissen, ist dieser Verhaltensmechanismus in ihrer Psyche nach wie vor etabliert.

Die damaligen Erfahrungen waren so schlimm, dass sie das Risiko, noch einmal so verletzt zu werden, auf keinen Fall eingehen will.

 

Dass dadurch andere Bedürfnisse wie das Erzielen guter mündlicher Leistungen verletzt werden, nimmt sie dafür in Kauf. Der Verhaltensmaßstab des Vermeidens einer möglichen Verletzung ihres Selbstwertes steht in ihrem Bedürfnissystem so stark im Vordergrund, dass die Verhaltensmaßstäbe anderer Bedürfnisse ihre Relevanz verloren haben.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Bei Daniel ist es so, dass er bisher den durch die Schule vorgegebenen Lern- und Leistungszielen nur deswegen gefolgt ist, weil es von den Lehrkräften so vorgegeben war. Dass das sein Autonomiebedürfnis nicht befriedigt, war ihm nicht weiter aufgefallen, da er bisher ohne großen Aufwand die vorgegebenen Ziele erfüllen konnte. Allerdings ist das nun bei Spanisch anders. Der Spanischunterricht stellt hohe Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler: Sehr regelmäßig und in kurzen Abständen müssen viele Vokabeln gelernt werden und der Unterricht ist sehr fordernd. Zum ersten Mal muss Daniel sehr viel Zeit investieren, um hier Schritt halten zu können.

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Daniel hat den Eindruck, dass sein ganzer Alltag bis in die Freizeitgestaltung hinein zunehmend von den Anforderungen des Spanischunterrichts bestimmt wird. Seine Freizeit war für ihn bisher der Ort, wo er sich als selbstbestimmter Gestalter seines Lebens erleben konnte. Da er seine Freizeit zunehmend mehr dem Lernen von Spanisch opfern muss, erlebt er sich als zunehmend weniger selbstbestimmt.  Hinzu kommt, dass sein Spanischlehrer der Überzeugung ist, dass beim Erlernen einer Sprache besonders strikte Vorgaben und eine besonders enge Kontrolle von außen wichtig ist, was dazu führt, dass sich Daniel in Bezug auf das Spanischlernen als extrem fremdbestimmt erlebt.

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Das Resultat ist eine Blockadehaltung von Daniel in Bezug auf Spanisch. Zum einen ermöglicht das ihm, seinen Freizeittätigkeiten wieder intensiver nachzugehen, wo er sich als selbstbestimmt erlebt. Zum anderen erfüllt auch seine Weigerung, Spanisch zu erlernen, sein bei ihm im Vordergrund stehendes Bedürfnis nach Autonomie, weil er sich mit dieser Weigerung den von außen vorgegebenen Lernzielen widersetzt.

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Dass er dadurch andere Bedürfnisse wie das Erzielen von guten Leistungen vernachlässigt und seine zukünftigen beruflichen Chancen beeinträchtigt, spielt aus der Perspektive seines entwicklungsbedingt übermäßig aktivierten Autonomiebedürfnisses keine Rolle. Deswegen laufen auch die Hilfsangebote seines Lehrers und seiner Mitschülerinnen und Mitschüler ins Leere. Aus der Perspektive seiner in Richtung des Autonomiebedürfnisses verzerrten Bedürfnislandkarte ist das Erreichen der aus schulischer Perspektive wichtigen Ziele wertlos, während er sich beim Ablehnen der Hilfsangebote als selbstbestimmt erlebt.

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Das emotionale Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des emotionalen Gehirns funktioniert so, dass unser Organismus je nach momentan erlebter Emotion auf allen Ebenen der Verhaltenssteuerung anders funktioniert. In Abhängigkeit von der erlebten Emotion denkt man anders, nimmt die Welt anders wahr, ist anders motiviert und anders körperlich aktiviert. Will man eine Person wirklich verstehen, muss man sich also bewusst machen, dass in einem bestimmten emotionalen Zustand immer nur der Anteil der eigenen Person gesehen wird, der durch die Emotion momentan in den Vordergrund gehoben wird.

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Der Grund, warum in einer bestimmten Situation eine bestimmte Emotion ausgelöst wird, liegt in unserer Lebensgeschichte: Wenn in einer bestimmten Situation eine Emotion ausgelöst wird, wird diese mit den in der Situation vorhandenen Reizen verknüpft. Trifft man erneut auf die betroffenen Reize, geht unser Organismus wieder in den entsprechenden emotionalen Zustand. Da auch in der Situation vorhandene nebensächliche Reize mit Emotionen verknüpft werden, ist es manchmal nicht leicht zu verstehen, woher unsere emotionalen Reaktionen kommen.

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Im Laufe eines Lebens bildet sich dadurch eine innere emotionale Landkarte aus, mit welcher unser Organismus ständig die Umgebung durchforstet. Wird ein Reiz entdeckt, der in der Vergangenheit mit einer Emotion verknüpft wurde, wird schnell und automatisch diese Emotion ausgelöst.

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Im besten Fall sind die ausgelösten Emotionen für das Fortkommen der Person hilfreich. Im schlechten Fall werden Emotionen ausgelöst, welche dysfunktional sind und das Fortkommen beeinträchtigen. In diesem Fall ist es wichtig, über Strategien zu verfügen, dysfunktionale Emotionen zu regulieren. Fehlen geeignete Regulationsstrategien, besteht die Gefahr, von der Emotion überwältigt zu werden und ein Verhalten an den Tag zu legen, welches man im Nachhinein bereut.

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​Ausführlichere Informationen zum Thema der emotionalen Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

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Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Daniel, die auf der Ebene des emotionalen Gehirns angesiedelt sind:

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1. Die Emotion Hoffnungslosigkeit 

 

Eine starke Emotion ist das Empfinden von Hoffnungslosigkeit. Diese Emotion stellt sich dann ein, wenn hinsichtlich des Erreichens eines erwünschten Zielzustandes oder des Vermeidens eines unerwünschten Zielzustandes immer wieder Misserfolge erlebt werden und es irgendwann als absolut aussichtslos empfunden wird, den erwünschten Zielzustand zu erreichen bzw. den unerwünschten Zielzustand zu vermeiden.  Gekennzeichnet ist der emotionale Zustand der Hoffnungslosigkeit dadurch, dass sich innerlich ein Zustand der völligen Antriebslosigkeit einstellt, gepaart mit der Aktivierung katastrofierender Gedanken, es niemals schaffen zu können.

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Ein eindrückliches Beispiel, das unter dem Namen „Erlernte Hilflosigkeit“ in die Forschungsgeschichte eingegangen ist, stammt aus der Forschung des Psychologen Martin Seligman. Hunde, die auf einem Boden stehen, durch welchen ihnen immer wieder Stromstöße versetzt werden, ohne dass sie diesen entkommen können, versuchen zunächst noch verzweifelt die Stromschläge irgendwie zu vermeiden. Nach einiger Zeit beginnen die Hunde aber damit, sich lethargisch hinzulegen und die Stromschläge passiv zu erdulden. Diese Lethargie geht so weit, dass selbst dann keine Versuche mehr unternommen werden, den Stromschlägen zu entkommen, wenn es später irgendwann wieder möglich wäre, die Stromschläge zu vermeiden.

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Die Funktion der Emotion Hoffnungslosigkeit besteht darin, unveränderliche Situationen hinzunehmen und sinnlose Anstrengungen zu beenden. Die innerpsychische Zielsetzung besteht darin, das Leben angesichts unüberwindbarer Schwierigkeiten neu auszurichten. Hinsichtlich der Entstehungsgeschichte geht der Hoffnungslosigkeit oft die Emotion Angst voraus. Solange der unerwünschte Zielzustand nur als Drohung im Raum steht, aber man möglicherweise das Drohende noch vermeiden kann, erlebt man Angst, was durch eine Aktivierung des Organismus und eine Fokussierung auf das Problem gekennzeichnet ist. Stellt sich dagegen irgendwann Hoffnungslosigkeit ein, wird der Organismus innerlich auf allen Ebenen deaktiviert und defokussiert, mit dem Ziel sich aufbauend auf dieser Leere mit der Zeit neu ausrichten zu können.

 

Im Fall von Daniel könnte das eine mögliche Erklärung seines Verhaltens sein. Daniel hat aufgrund verschiedener unglücklicher Umstände bisher in Spanisch nur Misserfolgserfahrungen gemacht. Er hat häufig das Vokabellernen versäumt und auch mit den Regeln der spanischen Grammatik hat er sich nie wirklich auseinandergesetzt. Außerdem fiel es ihm von Anfang an schwer, ein Sprachgefühl für Spanisch zu entwickeln. Deswegen hat er von Beginn an in den schulischen Spanischtests immer schlecht abgeschnitten. Hinzu kommt, dass er mit den Lehrkräften in Spanisch nie gut zurechtkam. Er hatte den Eindruck, dass diese der Meinung sind, dass er keinerlei Sprachtalent hat und ihm in Spanisch nichts zutrauen.

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Zunächst war noch zu bemerken, wie er mit aller Anstrengung versuchte, in Spanisch den Anschluss zu finden. Vor den Schulaufgaben hatte er zunehmend starke Ängste, immer wieder zu versagen, was dazu führte, dass er verzweifelt versuchte, binnen kurzer Zeit Hunderte von Vokabeln nachzuholen. Allerdings konnte er sich wegen seiner Prüfungsängste kaum konzentrieren, weil seine Gedanken zunehmend um die schlimmen Konsequenzen des Versagens in der Schule kreisten. Während der Schulaufgaben erlebte er dann regelrechte Blackouts, obwohl er eigentlich vorher den Eindruck hatte, wenigstens ein paar Spanischvokabeln behalten zu haben.

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Mit der Zeit änderte sich sein Verhalten in Spanisch. Im Unterricht beteiligte er sich kaum mehr, sondern starrte nur noch lethargisch aus dem Fenster. Hausaufgaben schob er immer wieder auf. An Tagen mit Spanischunterricht meldete er sich immer häufiger krank. Seine sowieso schon schlechten Leistungen wurden dadurch sogar noch schlechter, was seine Teilnahmslosigkeit nur noch weiter verstärkte. Sobald auch nur das Wort „Spanisch“ erwähnt wird, sackt er inzwischen regelrecht in sich zusammen und zieht sich so sehr in sich zurück, dass nichts und niemand mehr zu ihm durchzudringen scheint.

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Daniel ergeht es also ähnlich wie den Hunden von Martin Seligman mit ihrer „erlernten Hilflosigkeit“: Aufgrund seiner Misserfolgserlebnisse und des sich daraus ergebenden Teufelskreises löst das Thema Spanisch bei ihm starke Hoffnungslosigkeit aus, welche ihm jeden Antrieb nimmt. In seiner Hoffnungslosigkeit nimmt er auch die Hilfsangebote der Lehrkraft und der Mitschülerinnen und Mitschüler als völlig sinnlos wahr. Er sieht gedanklich keinerlei Chance, das Schuljahr noch irgendwie schaffen zu können, so dass er als einzigen Weg sieht, mit dem Thema Schule abzuschließen und nach alternativen Wegen zu suchen.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Weiteres Entgegenkommen in Bezug auf leichtes Ausfragen, Nachhilfe oder zusätzliche Erklärungen in Daniels Richtung wird kaum etwas an der Situation ändern, solange sich an Daniels emotionalem Zustand nichts verändert. Im schlimmsten Fall wirkt die Hoffnungslosigkeit ansteckend, da der ausbleibende Erfolg des Entgegenkommens bei einem selbst als Lehrkraft ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit wachsen lassen kann.

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Am besten wäre es, in solchen Fällen wie Daniels die drohende Eskalationsspirale in Richtung Hoffnungslosigkeit frühzeitig zu erkennen und Hilfsangebote zu einem Zeitpunkt anzubieten, zu dem Daniel noch zugänglich dafür ist. Da die Emotion der Angst eine Vorstufe darstellt, kann man beispielsweise auf angstbezogene emotionale Signale achten.

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Wenn der Zustand der Hoffnungslosigkeit bereits erreicht ist, ist eine schwierige Entscheidung zu treffen. Es gilt dann zu beurteilen, inwiefern das der Hoffnungslosigkeit zugrundeliegende Fähigkeitsdefizit aufgeholt werden kann. Wenn das wirklich unrealistisch sein sollte, sollte man Daniel in seinem Versuch, sein Leben neu zu orientieren, unterstützen. Kommt man dagegen zum Schluss, dass Daniels Einschätzung seiner nicht zu ändernden Unfähigkeit nicht der Realität entspricht, sollte man versuchen, seine empfundene Hoffnungslosigkeit zu ändern. Hilfreich für diese Entscheidung ist, die Situation aus Daniels Perspektive und im Kontext seiner bisherigen Erfahrungen nachzuvollziehen.

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Hinsichtlich des Versuchs, seine empfundene Hoffnungslosigkeit zu ändern, kann ein vertrauliches Gespräch hilfreich sein, in dem man Daniel die Möglichkeit eröffnet, offen über seine Befürchtungen zu sprechen. Allein das Teilen einer als hoffnungslos erlebten Situation mit einer anderen Person kann helfen, innerlich wieder mehr Kontrolle zu erleben. Weiterhin ist es oft so, dass die Gedanken von Personen, die sich zutiefst hoffnungslos fühlen, ausschließlich um die in ihren Augen nicht verhinderbaren schlimmen Konsequenzen kreisen, was das Sehen von den in ihnen eigentlich vorhandenen Ressourcen blockiert. Schließlich kann man versuchen, den verlorenen innerlichen Glauben an sich selbst durch eine gegenteilige Außenperspektive wieder aufzubauen, indem man der Schülerin oder dem Schüler glaubwürdig vermittelt, dass man ihn als jemanden erlebt, der in Wirklichkeit große innerliche Stärken hat.

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2. Eine nicht bewusst wahrgenommene Emotion: das Represser-Phänomen 

 

Wenn wir auf eine Situation emotional reagieren, funktioniert unsere Psyche je nach Emotion auf all ihren Steuerungsebene auf eine ganz bestimmte Weise: Man denkt auf eine bestimmte Weise, nimmt die Welt auf eine bestimmte Weise wahr und ist auf eine bestimmte Weise motiviert und körperlich aktiviert. Stellt sich bei einem ein bestimmter emotionaler Zustand ein, so ist einem das üblicherweise auch bewusst, weil emotionale Reaktionen von einem bewusst erlebten Gefühl begleitet sind. Wenn unsere Psyche beispielsweise in einen Angstzustand geht und sich im Denken angstbezogene Inhalte ausbreiten, sich die Wahrnehmung auf das angstauslösende Objekt fokussiert, Vermeidensverhalten aktiviert wird und sich der Herzschlag beschleunigt, fühlen wir uns gleichzeitig auch innerlich ängstlich. Der ausgelöste Emotionszustand teilt also dem Bewusstsein mit, dass er da ist.

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Allerdings gibt es auch das Phänomen, dass eine emotionale Reaktion zwar die Art des Denkens, der Wahrnehmung, der Motivation und der körperlichen Aktivierung verändert, aber nicht von dem bewussten Erleben begleitet ist, im Moment in diesem Emotionszustand zu sein – man nennt das auch das Represser-Phänomen. Bei einer Person können sich also beispielsweise die für einen Angstzustand typischen Veränderungen auf der Ebene des Denkens, der Wahrnehmung, der Motivation und des Körpers zeigen, obwohl die Person meint, keinerlei Angst zu verspüren. Die Person tut dabei nicht einfach nur so, als ob sie keine Angst hätte. Die Person bemerkt zwar beispielsweise ihren veränderten Zustand auf der Ebene des Denkens oder der körperlichen Aktivierung, kann sich drauf aber keinen Reim machen, warum die eigene Psyche so eigenartig reagiert.

 

Im Fall von Daniel könnte das eine mögliche Erklärung seines Verhaltens sein. Wenn eine Prüfung im Fach Spanisch ansteht, kommt es Daniel so vor, als würde das bei ihm keine größeren Emotionen auslösen. Er denkt, dass das Lernen auf die Prüfung zwar manchmal nervig ist, aber dass man vor so etwas wie einer Prüfung in einem in seinen Augen unwichtigen und für das Leben völlig irrelevanten Fach Angst haben könnte, erscheint ihm völlig abwegig. Fragt man ihn, ob er denn vielleicht Angst vor der Spanischprüfung hat, beginnt er angesichts dieser absurden Frage nur zu lachen.

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Allerdings sind auf allen anderen Ebenen seiner Psyche jenseits seines Bewusstseins starke Anzeichen für Prüfungsangst zu erkennen. Vor der Prüfung kann er sich nur schwer auf das Lernen konzentrieren. Seine Gedanken schweifen nach kürzester Zeit ab. Anfangs drehten sich seine Gedanken um die schlimmen Konsequenzen eines Misserfolgs, aber mit der Zeit hatte er sich angewöhnt, dann immer schnell zur Ablenkung an etwas ganz anderes zu denken. In der Prüfung kommt es ihm so vor, als seien seine Gedanken in Nebel gehüllt und manchmal wird ihm sogar schwindelig. Weiterhin überfällt ihn manchmal wie aus dem Nichts ein eigenartiges Zittern der Hände am Schreibtisch und in der Schule, das er sich nicht erklären kann.

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Zunächst schenkt Daniel diesen eigenartigen Reaktionen seiner Psyche keine große Beachtung. Aber als seine Unkonzentriertheit und dieser eigenartige Gedankennebel und Schwindel immer stärker werden, macht er sich langsam Sorgen, dass in seinem Gehirn irgendetwas nicht passen könnte. Besonders dieses komische Zittern der Hände kommt ihm eigenartig vor. Inzwischen schaut er immer öfter auf seine Hände und meint, immer öfter ein Zittern wahrzunehmen. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass psychische Störungen im Jugendalter plötzlich auftreten können, was seine Sorgen noch verstärkt. Nach außen lässt er sich allerdings nichts anmerken. Vor den anderen als „verrückt“ zu wirken, wäre das Schlimmste gewesen, was er sich vorstellen kann.

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Um sich zu beruhigen, versucht er immer mehr die Situationen zu vermeiden, in welchen er seine Unkonzentriertheit, den Gedankennebel und das Händezittern besonders stark bemerkt. Deswegen verbringt er zunehmend weniger Zeit am Schreibtisch. Stattdessen verbringt er seine Zeit immer mehr mit irgendwelchen Freizeitaktivitäten, wo es ihm nie innerlich so eigenartig geht. Da insbesondere auch die Schule ein Ort ist, an dem seine eigenartigen innerlichen Symptome auftreten, beginnt er auch diese zunehmend zu meiden, und er macht sich auf die Suche, welche alternativen Wege zur Schule es geben könnte.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Hilfsangebote von Seiten der Lehrkraft oder der Mitschülerinnen und Mitschüler sind in diesem Fall wenig erfolgversprechend. Daniel will ja gerade solche Situationen vermeiden, in welchen seine für ihn nicht erklärbaren inneren Reaktionen auftreten, und er will seine inneren Reaktionen ja vor den anderen so gut wie möglich verstecken. Wenig hilfreich wäre auch zu versuchen, Daniel in einem Gespräch einzureden, dass er sein Angstgefühl doch einfach zulassen soll, weil Daniel dieses Gefühl innerlich nicht erlebt.

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Hilfreich sind dagegen zum einen alle Maßnahmen, die auch in normalen Fällen von Prüfungsangst helfen, weil Daniels Psyche ja durchaus eine normale Angstreaktion zeigt, nur dass die emotionale Reaktion auf der Gefühlsebene fehlt. Hilfreich ist hier, ein möglichst hohes Kontrollempfinden über die Prüfungssituation herzustellen, und darauf hinzuarbeiten, dass die Konsequenzen der Prüfung als möglichst gering empfunden werden. Beispielsweise kann man den Zeitpunkt und die Anforderungen einer Prüfung vorher möglichst transparent machen, oder die Möglichkeit anbieten, eine Prüfung notfalls zu wiederholen.

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Hinsichtlich Daniels fehlender Einsicht in die von ihm als „nicht normal“ erlebten inneren Reaktionen seiner Psyche ist es zum einen hilfreich ihn erleben zu lassen, dass es sich hier um völlig normale Reaktionen handelt. Dadurch wird die Voraussetzung geschaffen, dass Daniel sich öffnen und daran arbeiten kann. Hier kann die Schilderung der eigenen Angstreaktionen auf Ereignisse, die man mit der Schülerin oder dem Schüler teilen kann, hilfreich sein. Um das daran Arbeiten zu ermöglichen, ist es wichtig, ihm eine hilfreiche Erklärung dafür anzubieten, warum die verschiedenen Mechanismen seiner Psyche so reagieren. Allein dadurch, dass man die zunächst als eigenartig wahrgenommenen inneren Dynamiken als etwas erlebt, was durchaus auch eine sinnhafte Funktion hat, werden diese Dynamiken als weniger belastend erlebt.

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Das Rationale Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des rationalen Gehirns basiert auf unserer Fähigkeit, sich Angelegenheiten mit Hilfe unserer Sprache innerlich zu veranschaulichen und sich darauf aufbauend rationale Ziele zu setzen, was man erreichen möchte.

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In einem ersten Schritt macht man sich dabei mittels der in uns vorhandenen begrifflichen Vorstellung von der Welt ein Bild von der Situation und den sich daraus ergebenden möglichen Konsequenzen. In einem zweiten Schritt können wir dann abwägen, welche der Konsequenzen uns angesichts unserer rationalen Ziele und Wertmaßstäbe als wünschenswert bzw. nicht wünschenswert erscheinen. In einem dritten Schritt können wir schließlich einen Handlungsplan aufstellen, wie wir es schaffen könnten, die wünschenswerten Konsequenzen herzustellen bzw. die nicht wünschenswerten Konsequenzen zu vermeiden.

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Da unser rationales Gehirn die Welt durch die Brille der in uns vorhandenen begrifflichen Vorstellungen von der Welt betrachtet, handelt es sich bei unseren rationalen Vorstellungen, Zielen und Wertmaßstäben nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Vorstellungen. Je nachdem, welche begrifflichen Vorstellungen eine Person im Laufe ihres Lebens erworben hat, wird dieselbe Situation unterschiedlich rational wahrgenommen und bewertet.

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Im besten Fall spiegelt das rationale Bild die Situation so wider, dass es für das Fortkommen der Person hilfreich ist. Allerdings kann es auch sein, dass das rationale Bild einer Person bestimmte Facetten der Situation fehlerhaft oder gar nicht abbildet, oder dass Ziele verfolgt werden, welche für das Fortkommen hinderlich sind. Problematisch ist das insbesondere dann, wenn der subjektive Charakter unserer rationalen Vorstellungen nicht erkannt wird, sondern diese für die einzig mögliche „Wahrheit“ gehalten werden.

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Da die rationalen Ziele einer Person nicht notwendigerweise mit den Verhaltenszielen des emotionalen Gehirns und des Bedürfnisgehirns übereinstimmen müssen, ist es für die Verhaltenssteuerung durch Ziele wichtig, dass Strategien vorhanden sind, mittels derer widersprüchliche emotionale oder bedürfnisbezogene Verhaltensziele im Moment kontrolliert und langfristig in Einklang gebracht werden können.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der rationalen Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Daniel, die auf der Ebene des rationalen Gehirns angesiedelt sind:

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1. Ein nicht offen gelegtes inhaltliches Ziel 

 

Bei den Zielen einer Person ist es wichtig, zwischen zwei Arten von Zielen zu unterscheiden: Zwischen den inhaltlichen Zielen, welche den Endzustand definieren, den man mit seinem Handeln zu erreichen versucht, und den instrumentellen Zielen, welche den Weg betreffen, den man gehen muss, um den gewünschten Endzustand zu erreichen.

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Ausschlaggebend für die grundlegende Richtung des Verhaltens sind unsere inhaltlichen Ziele, weil diese den als wünschenswert beurteilten Endzustand festlegen. Die instrumentellen Ziele werden nur so lange verfolgt, wie das damit angestrebte inhaltliche Ziel verfolgt wird. Sobald das inhaltliche Ziel wegfällt, prägen auch die damit verbundenen instrumentellen Ziele unser Verhalten nicht mehr.

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Hier kann eine Erklärung für Daniels Verhalten liegen. Daniels innerster Wunsch hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft ist das Erlernen eines Handwerks. Den für das Beginnen einer entsprechenden Ausbildung nötigen Schulabschluss der mittleren Reife (nach der 10. Klasse) hat er bereits in der Tasche, und er hat auch bereits einen Ausbildungsplatz gefunden, den er antreten möchte. Er hat also ein klares inhaltliches Ziel und das Schaffen der 11. Klasse ist für das Erreichen dieses Zieles nicht von Bedeutung. Dieser Hintergrund liefert einen Teil der Erklärung: aus Daniels inneren Perspektive heraus macht das Lernen von Spanisch keinerlei Sinn. Aber warum erzählt Daniel seinen Lehrkräften und Mitschülerinnen und Mitschülern nicht von seinem innersten Berufswunsch und seinem gefundenen Ausbildungsplatz?

Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Perspektive auf Daniels soziales Umfeld erweitern. Daniels Eltern gehören zur höheren Bildungsschicht und sein familiäres Umfeld bewegt sich entsprechend in einer sehr akademisch geprägten Umgebung. Dementsprechend gibt es in seinem sozialen Umfeld eine sehr starke verinnerlichte Norm: Eine Ausbildung ist viel weniger wert als ein Studium. Er meint genau zu wissen, dass sein innerster Berufswunsch des Erlernens eines Handwerks in seinem Umfeld großes Unverständnis und sogar Verachtung auslösen wird. Erst kürzlich hatte einer seiner Freunde beispielsweise getönt: „Eine Ausbildung ist nur etwas für Verlierer, was man da verdient, ist ja wohl ein Witz“.

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Aus diesem Grund hat Daniel seinen Lehrkräften und Mitschülerinnen und Mitschülern bisher noch nichts von seinem innersten Berufswunsch und seinem gefundenen Ausbildungsplatz erzählt. Er schafft es einfach nicht, den dafür nötigen Mut aufzubringen. Deswegen ist in ihm mit der Zeit ein Plan herangereift: Das Durchfallen in der 11. Klasse stellt für ihn eine Möglichkeit dar, eine Ausbildung zum Handwerker starten zu können, ohne dass er offenlegen muss, dass dies sein innerster Wunsch ist. Sein soziales Umfeld wird das so wahrnehmen, dass sein Leistungspotential für eine akademische Karriere leider nicht ausreichend ist, und er deswegen leider einen Ausbildungsberuf ergreifen muss. Dass er in den Augen der anderen dann als jemand angesehen wird, der weniger intellektuelles Potential hat, nimmt er in Kauf, weil ihm sein innerster Berufswunsch wichtiger ist.

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Da Spanisch sein schlechtestes Fach ist und Spanisch für seine Ausbildung irrelevant ist, stellt Spanisch die ideale Gelegenheit dar, diesen Plan umzusetzen. Seine Weigerung, im Spanischunterricht etwas zu lernen oder sich zu bemühen, stellt also ein instrumentelles Ziel dar, um seinem inhaltlichen Ziel des Erlernens eines Handwerks näher zu kommen. Die damit einhergehenden, unangenehmen Situationen im Unterricht ist Daniel bereit in Kauf zu nehmen. Er hat sich auch bereits einen Plan überlegt, wie er in solchen Situationen reagieren will. Er will versuchen, demonstrativ so zu tun, dass ihn Spanisch null interessiert, und dass die Anforderungen in Spanisch wohl ein Nichts seien, was man ganz einfach kurz vor Schluss noch hinbekommt, damit die anderen gar nicht auf die Idee kommen, ihn unterstützen zu wollen.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Daniel hat einen starken inneren Wunsch hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft, und auch seine Entscheidung für eine Ausbildung steht bereits fest. Eine offene Kommunikation seines Vorhabens scheitert aber daran, dass in seinem sozialen Umfeld sein Berufswunsch nicht wertgeschätzt wird, sondern er vielmehr sogar eine soziale Ablehnung fürchtet. Eigentlich gut gemeinte Unterstützungsangebote von Seiten der Lehrkraft oder der Schülerinnen und Schüler gehen ins Leere, weil das Durchfallen wegen Spanisch ja Teil von Daniels Plan ist, den ersehnten Ausbildungsplatz beginnen zu können. Im schlimmsten Fall entsteht hier bei der Lehrkraft und den Mitschülerinnen und Mitschülern nur Frust und Ärger, da Daniel sich den Angeboten gegenüber vermeintlich undankbar verhält.

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Wichtig für ein sinnvolles Reagieren ist es zunächst, die bei Daniel innerlich ablaufenden, aber nach außen nicht gezeigten psychischen Dynamiken überhaupt zu erkennen. Hilfreich ist hier zum einen ein gutes Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern, das durch echtes Interesse an der Schülerin oder dem Schüler und den Aufbau von Vertrauen gekennzeichnet ist. Zum anderen ist die innere Haltung wichtig, verschiedene Berufswege gleichermaßen wertzuschätzen und diese Haltung auch nach außen auszustrahlen.

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Auf dieser Basis kann man dann versuchen, in einem offenen Gespräch gemeinsam mit Daniel zu erkunden, inwiefern er bei seiner Entscheidungsfindung alle sich daraus ergebenden Konsequenzen berücksichtigt hat. Wichtig ist dabei, die individuellen Wertvorstellungen von Daniel anzuerkennen und wertzuschätzen, und gegebenenfalls auch seine eigenen Grundannahmen oder Wertvorstellungen zugunsten einer offenen und interessierten Haltung zu hinterfragen.

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2. Ein fehlendes extrinsisches Ziel

 

Allgemein ausschlaggebend für das Anstreben eines bestimmten Zielzustands wie zum Beispiel das Beherrschen der spanischen Sprache ist das Vorhandensein eines inneren Ziels, aus dessen Perspektive das Erreichen des Zustandes etwas Wünschenswertes darstellt. Allerdings gibt es zwei fundamental unterschiedliche Arten von inneren Zielen:

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Die erste Zielart ist dadurch charakterisiert, dass die Erwünschtheit eines Zielzustandes anhand von Maßstäben beurteilt wird, welche in der Psyche der handelnden Person selbst verankert sind, so dass sie aus eigenem Antrieb heraus handelt (intrinsische Ziele). Ein Beispiel ist eine Schülerin oder ein Schüler, der oder die deswegen Spanisch lernt, weil er oder sie im letzten Urlaub eine spanische Freundin kennengelernt hat.

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Die zweite Zielart ist dadurch charakterisiert, dass ein Zielzustand zwar aus der Perspektive der eigenen inneren Maßstäbe keine Bedeutsamkeit hat, aber trotzdem angestrebt wird, weil irgendwelche äußere Instanzen den Zustand als erstrebenswert ansehen und dementsprechend äußerliche Anreize in Aussicht stellen, die vom eigentlichen Zielzustand losgelöst sind (extrinsische Ziele). Ein Beispiel ist eine Schülerin oder ein Schüler, der oder die nur deswegen Spanisch lernt, weil er aus reinem Ehrgeiz heraus gute Noten erzielen möchte oder weil eine bestimmte Abiturnote Voraussetzung für die Zulassung für ein angestrebtes Studium ist oder weil die Eltern eine Belohnung versprochen haben.

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Hier kann eine mögliche Erklärung im Fall von Daniel liegen. Wie bei vielen anderen Schülerinnen und Schülern auch, ist es bei Daniel so, dass das Erlernen von Spanisch aus der Perspektive seiner inneren intrinsischen Ziele keinerlei Relevanz besitzt, weil Spanisch in Daniels Lebenswelt keinerlei Rolle spielt. In Bezug auf Englisch beispielsweise ist das ganz anders. Die Musik, die er hört, ist auf Englisch, in den Computerspielen, die er spielt, kommen viele englischsprachige Begriff vor, und überhaupt hat er den Eindruck, dass einfach viele wichtige Leute Englisch sprechen. Auf Spanisch stößt er dagegen in seiner Alltagswelt jenseits der Schule nie.

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Aus seiner eigenen Innenperspektive heraus sieht er also keinerlei Sinn darin, Spanisch zu lernen. Das ist bei vielen Mitschülerinnen und Mitschülern ähnlich, aber bei Daniel kommt noch ein zweiter Faktor hinzu: Er ist nicht nur intrinsisch nicht motiviert, bei ihm fehlen zusätzliche jegliche extrinsischen Ziele. Er ist ein extrem guter Volleyballspieler und spielt mit seinem Verein in der höchsten Liga, woraus er einen sehr hohen Selbstwert schöpft. Eine Wertschätzung, die über das Erzielen guter Noten in der Schule vermittelt wird, hat für ihn deswegen keine Relevanz. Auch die Tatsache, dass gute Schulnoten eine Voraussetzung für das Ergreifen bestimmter Studiengänge sind, stellt für ihn keinen relevanten Wertmaßstab dar, weil für ihn das Thema Studium momentan keinerlei Rolle spielt. Und seinen Eltern ist das Thema Schule egal. Sein Vater interessiert sich sowieso nicht für ihn und seine Mutter hat mit tausend anderen Problemen zu kämpfen.

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Seine fehlende extrinsische Motivation hinsichtlich des Erzielens guter Noten war bisher nur nicht weiter aufgefallen. Zum einen interessiert sich Daniel durchaus für einige Inhalte anderer Fächer wie beispielsweise Englisch. Zum anderen kam er in vielen anderen Fächern mit bloßer Logik und etwas Allgemeinwissen bisher einigermaßen gut zurecht, ohne stundenlang mühevoll irgendwelche sinnentleerten Inhalte auswendig lernen zu müssen, wie es jetzt in Spanisch der Fall ist. 

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Der Versuch, Daniel über Unterstützungsangebote wie einer angekündigten zusätzlichen Ausfrage oder einer Nachhilfe von Seiten der Mitschülerinnen und Mitschülern dazu zu bewegen, Zeit in das Erlernen von Spanisch zu investieren, ist aufgrund seiner fehlenden intrinsischen und extrinsischen Motivation zum Scheitern verurteilt. Wenn man also in einem solchen Fall Schülerinnen oder Schüler zum Lernen bewegen möchte, muss man zunächst versuchen, eine intrinsische oder extrinsische Motivation zum Lernen überhaupt erst aufzubauen.

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Um eine intrinsische Motivation aufzubauen, kann man versuchen, die Stufen des Aufbaus von Interesse zu durchlaufen. Dabei wird versucht, zunächst beispielsweise mittels überraschender Informationen oder für die Schülerinnen und Schüler bedeutsamer Personen ein situatives Interesse hervorzurufen. Das in der Situation entstandene Interesse versucht man dann über die Situation hinweg aufrechtzuerhalten, beispielsweise durch das Einbeziehen des persönlichen Lebensumfeldes der Schülerinnen und Schüler oder durch das Arbeiten an Projekten in kleineren Gruppen.

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In Bezug auf die extrinsische Motivation kann ein Gespräch mit Daniel hilfreich sein, in dem man versucht, ihm die sich aus dem Verlassen der Schule ergebenden Konsequenzen gemeinsam zu erarbeiten und ihm dadurch bewusst zu machen. Allerdings ist es äußerst wichtig, in einem solchen Gespräch die inneren Wertmaßstäbe von Daniel sensibel zu erkunden, wertzuschätzen und gegebenenfalls auch anzuerkennen, dass Daniel Wertmaßstäbe hat, die von den eigenen Wertmaßstäben abweichen.

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Das Selbst-Gehirn

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Die Verhaltenssteuerung auf der Ebene des Selbst beruht darauf, dass wir uns mit Hilfe unseres rationalen Gehirns auch ein Bild von uns selbst machen können. Dabei lassen sich drei inhaltliche Bereiche abgrenzen: Man kann sich die Frage stellen, welche Bedürfnisse, Emotionen, Ziele und Wertmaßstäbe bei einem selbst im Vordergrund stehen (Selbstbild), ob man die Welt wie gewünscht beeinflussen kann (Selbstwirksamkeit) und ob man mit dem Bild von sich selbst und der empfundenen Selbstwirksamkeit zufrieden ist (Selbstwert).

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Das Selbstbild enthält Vorstellungen darüber, wie man meint, momentan zu sein, wie man meint, sich in Zukunft entwickeln zu können, und wie man eigentlich gerne sein würde. Wie bei unseren rationalen Vorstellungen über die Welt, handelt es sich auch bei unseren rationalen Vorstellungen und Bewertungen über uns selbst nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Vorstellungen.

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Im besten Fall spiegelt das Selbstbild die in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele möglichst realistisch, umfassend und miteinander integriert wider.

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Allerdings ist uns, wie bei unserem Wissen über die Welt, auch bei unserem Wissen über uns selbst im gegenwärtigen Moment immer nur ein kleiner Teilausschnitt davon bewusst. Dieser Tatsache ist man sich oft nicht bewusst, sondern man hat den Eindruck, man wäre nichts anderes als der momentan im Vordergrund stehende Teilausschnitt des Selbst, was die Gefahr mit sich bringt, weitere Facetten der eigenen Person zu vernachlässigen.

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Hinsichtlich der Vorstellungen, wie man gerne sein würde, sind zwei unterschiedliche Maßstäbe zu unterscheiden. Man kann sich aus der Perspektive der eigenen inneren Maßstäbe betrachten (intrinsisch) oder aus der Perspektive der Maßstäbe anderer Personen (extrinsisch). Eine rein intrinsische Selbstteuerung kann hinsichtlich der Integration in eine soziale Gruppe problematisch sein, eine rein extrinsische Selbststeuerung bringt die Gefahr einer Vernachlässigung der eigentlichen inneren Bedürfnisse und Emotionen mit sich.

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Hinsichtlich der empfundenen Selbstwirksamkeit ist sowohl eine Unterschätzung als auch eine zu starke Überschätzung der Beeinflussbarkeit der Welt dysfunktional. Eine leichte Überschätzung kann aber ein Entwicklungsmotor sein. Bei der Abschätzung der Selbstwirksamkeit spielt eine wichtige Rolle, ob man die Ursachen von Erfolgen bzw. Misserfolgen sich selbst oder äußeren Einflussfaktoren zuschreibt und die Ursachen als änderbar oder nicht änderbar wahrnimmt. Dysfunktional ist, wenn ein Misserfolg äußeren Ursachen zugeschrieben wird, die als nicht änderbar eingeschätzt werden.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der selbstbezogenen Steuerung des Erlebens und Verhaltens findest Du im Bereich Wissen.

 

Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen für den Fall Daniel, die auf der Ebene des Selbst angesiedelt sind:

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1. Ein überaktivierter extrinsischer Selbstwert

 

Das Selbst einer Person enthält zum einen die inneren Vorstellungen darüber, welche Bedürfnisse, Emotionen, Ziele und Wertmaßstäbe bei einem selbst im Vordergrund stehen (Selbstbild), und zum anderen die innere Bewertung dieser Vorstellungen, ob man es gut findet so zu sein, oder das vielleicht lieber ändern möchte (Selbstwert). Als Maßstab für die innere Bewertung kann man zum einen eigene innere Maßstäbe (intrinsisch) oder die Maßstäbe anderer Personen (extrinsisch) benutzen.

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Einer der stärksten extrinsischen Maßstäbe, welcher im Laufe des Erwachsenwerdens neu hinzukommt, resultiert aus dem Eingehen einer Paarbeziehung. Bis zum Eingehen einer Paarbeziehung ist die Entwicklung einer Person meist durch langfristig stabile Einflussfaktoren wie das familiäre Umfeld oder das Freundesumfeld geprägt, mit dem Effekt, dass sich im Laufe der Zeit darauf abgestimmte innerliche Maßstäbe entwickelt haben. Durch das Eingehen einer Paarbeziehung kann es nun so sein, dass man plötzlich mit ganz anderen Maßstäben konfrontiert wird, welche im bisherigen Umfeld nicht vorhanden waren.

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Das Eingehen einer Paarbeziehung geht also mit der fundamentalen Herausforderung einher, die jeweils biografisch unterschiedlich geprägten inneren Maßstäbe in Einklang zu bringen. Es kommen also plötzlich völlig neue extrinsische Wertmaßstäbe hinzu, die zudem ein besonders hohes Gewicht haben, weil sich eine Paarbeziehung im Vergleich zu allen anderen sozialen Beziehungen durch eine besonders hohe persönliche Bedeutung und Intensität auszeichnet.

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Hier kann eine mögliche Erklärung im Fall von Daniel liegen. Daniel hat seit einigen Monaten eine Freundin, die er kennengelernt hat, weil sie bei den Fußballspielen seines Vereins öfters als Zuschauerin dabei war. Seine Freundin stammt aus einem völlig anderen Lebensumfeld. Sie hat kürzlich ihren mittleren Schulabschluss gemacht und hat gerade eine Lehre als Schreinerin begonnen. Das, was man an Schulen lernt, hält sie für völlige Zeitverschwendung, weil man nichts davon fürs echte Leben gebrauchen kann.

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Daniel ist sehr verliebt und gleichzeitig sehr stolz, dass er eine so tolle Person ist, dass ein Mädchen mit ihm zusammensein möchte. Eine seiner schlimmsten Vorstellungen ist, dass seine Freundin ihn verlassen könnte. Er hat das Gefühl, dass dann seine ganze Persönlichkeit in sich zusammenbrechen würde. Deswegen versucht er, seiner Freundin jeden Wunsch von den Augen abzulesen und in ihren Augen so gut wie möglich zu glänzen.

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Ohne sich groß darüber Gedanken zu machen, beginnt er deswegen zunehmend die inneren Wertmaßstäbe seiner Freundin zu übernehmen. Das, was ihm bisher innerlich wichtig war und worauf er innerlich stolz war, wie beispielsweise seine Fähigkeit, ohne großen Aufwand gute Noten in der Schule zu bekommen, wird in seiner inneren Wertlandkarte zunehmend überdeckt von den Wertmaßstäben seiner Freundin, mit denen er sich und sein Leben mehr und mehr betrachtet. Auch mit seinem bisherigen Lebensplan des Ergreifens eines Studiums nach der Schule, den er – ohne eigentlich wirklich zu wissen warum – bisher immer als gegeben angenommen hatte, kann er sich angesichts der Einstellung seiner Freundin zunehmend weniger identifizieren. 

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Da er versucht, möglichst viel Zeit mit seiner Freundin zu verbringen, hat er zunehmend weniger Zeit für die Schule. In den meisten Fächern kommt er aufgrund seines bisher aufgebauten Vorwissens zwar noch einigermaßen zurecht. Anders ist das allerdings in Spanisch, was als Schulfach erst neu hinzugekommen ist, und wo er sich bisher kaum Vokabelwissen angeeignet hat. Um Zeit mit seiner Freundin zu verbringen, schiebt er hier das Lernen immer wieder auf, was zur Folge hat, dass der Berg, den er abarbeiten müsste, immer größer wird.

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Irgendwann ist der Berg dann so groß, dass er Tag und Nacht damit verbringen müsste, Spanisch zu lernen. Er fürchtet, dass er damit seine Beziehung gefährden würde. Zum einen hätte er dann keine Zeit mehr für seine Freundin, was in ihm die Befürchtung auslöst, dass sie sich dann einem anderen Jungen zuwenden könnte. Zum anderen hat er die Sorge, seine Freundin könne das so auffassen, dass ihm Dinge, die in ihren Augen keinerlei Sinn machen, wichtiger sind als sie.

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Und da er beim Zusammensein mit seiner Freundin die Welt und sich selbst nur noch durch die Brille ihrer Wertmaßstäbe sieht, erscheint ihm die Schule sowieso völlig unwichtig. Aufgrund der Tatsache, dass immer nur ein kleiner Ausschnitt der inneren Vorstellungen und Wertmaßstäbe im gegenwärtigen Moment aktiviert ist und man meint, der momentan aktivierte Teil des Selbst würde die eigene Person vollständig abbilden, nimmt er gar nicht bewusst wahr, dass er aufgrund dieser beziehungsbedingten inneren Dynamik zu einer anderen Person wird, als er es jahrelang gewesen ist. 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Angebote von Seiten des Lehrers oder der Mitschülerinnen und Mitschülern zur Unterstützung beim Spanischlernen laufen in diesem Fall ins Leere, weil das Spanischlernen aus der Perspektive des bei Daniel momentan im Vordergrund stehenden Ausschnitts seiner Selbstwertlandkarte keinerlei Rolle spielt. Vielmehr stellt das Spanischlernen für ihn eine Gefahr für den aus seiner Beziehung zu seiner Freundin geschöpften hohen Selbstwert dar.

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Hilfreich ist stattdessen der Versuch, das Auftreten solcher Dynamiken präventiv zu verhindern, indem man die Schülerinnen und Schüler darin unterstützt, die in ihrem Inneren vorhandenen Sichtweisen und Wertmaßstäbe kennen, reflektieren und wertschätzen zu lernen, und diese mit den Sichtweisen und Wertmaßstäben der anderen in Einklang zu bringen. Bezogen auf das Eingehen von Paarbeziehungen kann eine Einheit hilfreich sein, bei der den Schülerinnen und Schülern hilfreiche Vorstellungen davon vermittelt werden, was eine gute Beziehung ausmacht.

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Um solche Dynamiken wie bei Daniel erkennen zu können, ist es hilfreich, sich die Gewohnheit zuzulegen, Schülerinnen und Schüler nicht nur im Unterricht, sondern auch außerhalb des Unterrichts (z.B. Pause, Schulfahrten, Schulfeste) genau zu beobachten und Informationen aus weiteren Quellen (Eltern, andere Lehrkräfte) einzuholen. Um die bei einer Schülerin oder einem Schüler momentan in den Hintergrund getretenen Anteile ihres oder seines Selbstbildes wieder zu aktivieren, kann man versuchen, der Schülerin oder dem Schüler die damit verbundenen Stärken erlebbar zu machen, damit sie oder er auch aus diesen Bereichen einen positiven Selbstwert schöpfen kann.

 

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2. Ein Schützen des Selbstwertes 

 

Ein zentraler Mechanismus auf der Ebene der selbstbezogenen Steuerung ist das Bestreben, einen hohen Selbstwert zu erreichen und aufrechtzuerhalten, sich also als eine fähige und bewundernswerte Person zu erleben. Wird der empfundene Selbstwert gefährdet, wird das als sehr unangenehm erlebt, und es werden verschiedene psychische Strategien in Gang gesetzt, um den Selbstwert zu schützen. Dabei kann zum einen versucht werden, die den Selbstwert gefährdenden Aspekte innerlich auszublenden, zum anderen kann versucht werden, die Situation so zu ändern, dass sich wieder das Erleben eines hohen Selbstwertes einstellt.

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Gerade im Jugendalter können solche Mechanismen eine große Rolle spielen. Bisher waren das eigene Selbstbild und der empfundene Selbstwert stark geprägt von den Vorstellungen und Wertmaßstäben der im Kindesalter vorhandenen und nicht weiter hinterfragten Autoritätspersonen wie beispielsweise den Eltern. Im Jugendalter werden diese Vorstellungen und Maßstäbe vor dem Hintergrund der im weiteren sozialen Umfeld existierenden Vorstellungen und Maßstäbe hinterfragt. Das Entwicklungsziel besteht dabei darin, ein persönlich reflektiertes und eigenständiges Selbst zu entwickeln.

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Verbunden mit dieser Suche nach der eigenen Identität ist häufig ein Infragestellen der bisherigen kindlichen Identität, was häufig eine Abgrenzung und ein Anzweifeln der Autoritätspersonen nötig macht, die für das bisherige Leben maßgeblich waren. An deren Stelle tritt nun schwerpunktmäßig die eigene Clique der Gleichaltrigen, deren Vorstellungen und Wertmaßstäben ein hohes Gewicht beigemessen wird.

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Diese entwicklungsbedingten Dynamiken auf der Ebene des Selbst können mit großen Unsicherheiten auf der Ebene des Selbstwertes einhergehen. Das bisherige Selbstbild als Grundlage des Selbstwertes wird infrage gestellt, das neue Selbstbild ist wiederum noch zu unsicher, als dass darauf aufbauend ein als verlässlich empfundener hoher Selbstwert entwickelt werden kann. Gleichzeitig ist aber das Bedürfnis nach einem hohen Selbstwert im Jugendalter besonders stark ausgeprägt, was dazu führen kann, dass selbstwertstützende Strategien das Erleben und Verhalten stark prägen.

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Hier kann eine mögliche Erklärung im Fall von Daniel liegen. Schon in den letzten Jahren ist für Daniel seine Außenwirkung im Klassenverbund und in seiner Clique immer wichtiger geworden. Gleichzeitig spürt Daniel immer wieder eine Unsicherheit in sich selbst, die sich auf die Veränderung seines Körpers und seiner Stimme und demensprechend auch auf seine Außenwirkung bezieht. Besonders unter Druck fühlt er sich in Situationen, in denen er vor der ganzen Klasse etwas gefragt wird und sich wie auf dem Präsentierteller fühlt. Dann bekommt er oft kein einziges Wort heraus, was seine Angst vor solchen Situationen jedes Mal weiter steigert.

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Besonders schlimm ist es in Situationen, in denen es darum geht, dass seine Leistung bewertet wird. Da er sich körperlich als wenig attraktiv einschätzt, war das Erbringen von guten Leistungen bisher eigentlich immer eine hilfreiche Stütze für seinen Selbstwert. Aufgrund seiner immer stärker werdenden Angst, vor der Klasse sein Gesicht zu verlieren, erzielt er inzwischen aber immer öfter trotz guter Vorbereitung schlechtere Noten. Seine große Sorge ist, dass er nun in den Augen der anderen nicht nur als körperlich wenig attraktiv, sondern auch noch als unfähig und dumm wahrgenommen wird, was seine Unsicherheit noch weiter steigert. Am schlimmsten ist es in Spanisch, wo er bereits früh den Anschluss verloren hat. Allein wenn er daran denkt, dass er vor der Klasse von der Lehrkraft ausgefragt werden könnte, versinkt er vor Selbstscham fast im Boden. Allerdings versucht er sich das von außen nicht anmerken zu lassen, um wenigstens seinen letzten Rest an Selbstwert zu schützen.

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Als ihm seine Mitschülerinnen und Mitschüler Nachhilfe anbieten, droht auch noch sein letzter Rest an Selbstwert innerlich in sich zusammen zu stürzen. Offenbar haben die anderen seine Unfähigkeit doch bemerkt. Würde er deren Angebot annehmen, würde er gegenüber den anderen eingestehen, dass er in Wirklichkeit auf allen Ebenen ein Verlierer ist. In seiner Verzweiflung sieht er als letzten Ausweg um seinen Selbstwert zu schützen nur noch die Möglichkeit, einfach gar nicht mehr in Spanisch anzutreten, denn wenn er es gar nicht erst versucht, kann er auch nicht als Verlierer dastehen. Um seine wahren Beweggründe zu vertuschen, versucht er dabei nach außen so zu tun, als wäre das Verlassen der Schule der für seine Zukunftspläne einzig richtige Weg.

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Daniel Unterstützungsangebote zum Lernen von Spanisch zu machen ist in diesem Fall wenig zielführend, weil sein Problem durch eine innere Selbstwertdynamik angetrieben wird, welche ihm die Unterstützungsangebote als Gefahr für seinen Selbstwert erscheinen lässt. Stattdessen gilt es zu versuchen, positiv auf die Entwicklung seines Selbstwertes Einfluss zu nehmen.

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Ein hilfreiches Werkzeug ist hier die Unterscheidung zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Selbstwerten: dem bedingten Selbstwert, welcher an das Erreichen bestimmter Standards geknüpft ist, und dem unbedingten Selbstwert, welcher aus der Überzeugung besteht, als Person allgemein etwas wert zu sein, unabhängig davon, ob bestimmte Standards erreicht werden. Ist das Selbstwertgefühl einer Person ausschließlich an den bedingten Selbstwert geknüpft, besteht wie bei Daniel die Gefahr, sich selbst in schwierigen Lebenslagen zu verlieren.

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Ein Ansatzpunkt könnte also der Versuch sein, bei Daniel einen unbedingten Selbstwert aufzubauen. Prägend für den unbedingten Selbstwert sind beispielsweise Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen. Ein hoher unbedingter Selbstwert kann hier dann resultieren, wenn man die Erfahrung macht, unabhängig vom Erreichen bestimmter Standards wertgeschätzt zu werden. Eine solche Wertschätzung kann dabei nicht einfach durch irgendwelche gut gemeinten Worte vermittelt werden. Hier besteht vielmehr die Gefahr, dass sogar negative Wirkungen resultieren, weil Daniel solchen gut gemeinten Worten womöglich entnimmt, das Gegenüber halte ihn für so unfähig, dass man ihn wegen eigentlich völlig unwichtiger Dinge wertschätzen müsse.

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Stattdessen muss man als Bezugsperson innerlich wirklich zur tiefen Überzeugung kommen, dass man die andere Person an sich wertschätzt, unabhängig von irgendwelchen Standards. Schafft man das, wird das ganze eigene Verhalten gegenüber der anderen Person wertschätzend sein, so dass die Wertschätzung als authentisch und nicht nur als „gut gemeint“ erlebt wird.

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Das Soziale Gehirn

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Wir Menschen sind nicht nur Einzelwesen, sondern auch soziale Wesen. Die in uns vorhandenen psychischen Kräfte der Verhaltenssteuerung sind also eingebunden in den Rahmen eines uns umgebenden sozialen Kollektivs, welches auf verschiedenen Wegen unser Erleben und Verhalten beeinflusst.

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Zum einen prägt das uns umgebende soziale Kollektiv die Entwicklung der vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele und Wertmaßstäbe. Zum anderen existieren im uns umgebenden sozialen Kollektiv soziale Rollen, welche bestimmte Verhaltensanforderungen an uns stellen.

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Hinzu kommt noch ein weiterer Wirkfaktor: Wir verhalten uns anders, je nachdem, ob wir uns allein in einer Situation befinden, oder ob noch andere Personen anwesend sind, die für uns eine Wichtigkeit haben.

Zum einen können sich innere Steuerungsmechanismen herausgebildet haben, welche in Abhängigkeit von einer anderen Person funktionieren. Die andere Person muss dabei nicht unbedingt anwesend sein. Die vorgestellte Gegenwart der anderen Person oder eine starke Präsenz in der Vergangenheit kann ausreichen, damit wir unser Verhalten an diesen anderen Personen ausrichten.

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Zum anderen kann sich in sozialen Gruppen eine Gruppenidentität herausbilden in Form von gemeinsam geteilten Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Zielen und Wertmaßstäben. Diese gemeinsam geteilte Gruppenidentität muss nicht notwendigerweise mit der individuellen Identität einer sich zur Gruppe zugehörig fühlenden Person übereinstimmen. Je nachdem, ob im Moment die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe von Bedeutung ist oder nicht, kann also ein anderes Verhalten resultieren.

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Im besten Fall ist eine Person sich sowohl der sozialen Faktoren der Verhaltensbeeinflussung als auch ihrer inneren, individuellen Verhaltensmaßstäbe bewusst und schafft es, im Falle unterschiedlicher Verhaltensanforderungen diese sinnvoll miteinander zu integrieren.

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Im schlechten Fall kann eine Person sich der sozialen Faktoren der Verhaltensbeeinflussung nicht bewusst sein, sondern das daraus resultierende Verhalten als einen Ausdruck ihrer inneren individuellen Verhaltensmaßstäbe fehlinterpretieren. Die Person wird dadurch, ohne sich dessen bewusst zu sein, zu einem Spielball des sie umgebenden sozialen Kollektivs, was zur Vernachlässigung individueller Bedürfnisse und Ziele führen kann.

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Nachteilig ist auch, wenn eine Person ein Verhalten an den Tag legt, welches ausschließlich durch ihre inneren Verhaltensmaßstäbe geprägt ist und die Einflussfaktoren des sie umgebenden sozialen Kollektivs ignoriert. Eine solche Person hat Schwierigkeiten damit, soziale Beziehungen aufzubauen und sich in das sie umgebende soziale Kollektiv zu integrieren.

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Ausführlichere Informationen zum Thema soziales Gehirn findest Du im Bereich Wissen.

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Es folgen nun zwei mögliche Erklärungen im Fall Daniel, die sich auf den Einfluss des sozialen Umfeldes beziehen: 

 

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1. Eine problematische soziale Bezugsnorm

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Wie wir uns selbst und unser Verhalten sehen und vor allem bewerten ist von verschiedenen Kontextfaktoren abhängig. Geht es um (schulische) Leistung sind grundsätzlich drei Bezugsnormen möglich, anhand derer man seine Leistungsfähigkeit messen und bewerten kann.

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Zum einen kann man die eigene Leistungsfähigkeit anhand einer kriterialen Bezugsnorm bewerten, also anhand eines festgelegten Wertes oder Standards. Ein Beispiel wäre das Erreichen einer bestimmten Notenstufe, die zum Bestehen eines Schuljahres notwendig ist. Zum anderen kann man die eigene Leistungsfähigkeit anhand einer individuellen Bezugsnorm bewerten, also anhand eines Vergleichs der aktuellen Leistungsfähigkeit mit der Leistungsfähigkeit in der Vergangenheit. Das ist beispielsweise der Fall, wenn jemand sein Ergebnis in einer Schulaufgabe mit dem Ergebnis der vorherigen Schulaufgabe vergleicht und bewertet. Weiterhin kann man die eigene Leistungsfähigkeit anhand einer sozialen Bezugsnorm bewerten, also anhand eines Vergleichs der eigenen Leistungsfähigkeit mit der Leistungsfähigkeit einer sozialen Bezugsgruppe. In der Schule sind das oft die eigene Klasse oder andere Schülerinnen und Schüler, die man persönlich als Vorbilder ansieht.

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Das Problem einer Bewertung mittels einer sozialen Bezugsnorm ist, dass die resultierende Bewertung von der Leistungsfähigkeit der sozialen Bezugsgruppe abhängt, mit der man sich vergleicht. Ist diese hoch, kann die Bewertung der eigenen Leistungsfähigkeit selbst dann negativ ausfallen, wenn diese eigentlich auch höher ausgeprägt ist, aber eben nicht so hoch wie in der sozialen Bezugsgruppe. Steht in einem solchen Fall die soziale Bezugsnorm bei der Selbstbewertung im Vordergrund, kann man den Eindruck haben, dass man wenig leistungsfähig ist, obwohl bei einer Bewertung anhand einer kriterialen oder individuellen Bezugsnorm eine positive Selbstbewertung resultieren würde.

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Entwicklungspsychologisch betrachtet stellt hier insbesondere das Jugendalter einen Risikofaktor dar. Eine zentrale Entwicklungsaufgabe in dieser Lebensphase ist die Ablösung von den Eltern und das Finden der eigenen Rolle innerhalb der sozialen Gruppe der Gleichaltrigen. Aus diesem Grund ist in dieser Entwicklungsphase das psychische Geschehen besonders stark durch soziale Vergleichs- und Bewertungsmaßstäbe geprägt, während die Maßstäbe, anhand derer in der Kindheit das Leben und das eigene Selbst ausgerichtet und bewertet wurden, in Frage gestellt werden.

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Hier kann eine mögliche Erklärung im Fall von Daniel liegen. In Daniels Klasse gibt es die Besonderheit, dass viele Schülerinnen und Schüler in Spanisch außerordentlich gute Noten in Spanisch haben. Dazu gehören insbesondere auch die Schülerinnen und Schüler, die Daniel heimlich bewundert, weil sie so sind, wie er auch gerne wäre. Hinzu kommt, dass der Lehrer die soziale Bezugsnorm im Unterricht stark betont. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, lobt er die Schülerinnen und Schüler, die besonders gut in Spanisch sind, um diese zu noch höherer Leistung anzuspornen. Bei der Bekanntgabe der Noten veröffentlicht er immer die Verteilung aller Noten, um der gesamten Klasse zu vermitteln, wie außergewöhnlich hoch das Leistungsniveau in der Klasse ist. Damit die Schülerinnen und Schüler ihr Potenzial in Spanisch wirklich ausreizen können, steigert er weiterhin ständig das sowieso schon außergewöhnlich hohe Anforderungslevel.

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Für Daniels Psyche hat all das jedoch gravierende Auswirkungen. Eigentlich ist er in Spanisch gar nicht so schlecht. Aber er hat den Eindruck, im Rahmen dieser „Hochleistungsklasse“ einfach nicht mithalten zu können. Stattdessen kommt er mehr und mehr zur Überzeugung, dass alle anderen schlauer sind als er, und dass er es niemals schaffen wird so zu werden, wie seine heimlichen Vorbilder in der Klasse. Mehr und mehr fühlt er sich als Außenseiter in der Klasse, dem von den anderen Mitschülerinnen und Mitschülern keine wirkliche Wertschätzung entgegengebracht wird.

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Das Angebot von einigen Mitschülerinnen und Mitschülern, ihn in Spanisch zu unterstützen, wirkt auf Daniel so, dass diese nur Mitleid mit ihm haben, was seinen fähigkeitsbezogenen Selbstwert nur noch weiter untergräbt. Das Erreichen einer Note in Spanisch, welche ein Durchfallen verhindern würde, ist für ihn aus dieser Perspektive nichts, was ihm weiterhelfen würde. Das würde nur dazu führen, dass er in dieser Klasse verbleibt, wo er in seinen Augen nur der bemitleidete Außenseiter ist.

 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Für die meisten Lehrkräfte ist eine solche Hochleistungsklasse ein großes Erfolgserlebnis, da man sich hier leicht in der eigenen Unterrichtsgestaltung bestätigt sehen kann. Umso wichtiger ist es, in einer solchen Situation trotzdem nicht die Individualität der Schülerinnen und Schüler im Rahmen des sozialen Gefüges der Klasse zu übersehen sondern diese zu berücksichtigen. Nur so kann einem als Lehrkraft auffallen, dass es Schülerinnen und Schüler wie Daniel gibt, die eigentlich leistungsfähig sind, aber ihr Potential aufgrund der besonderen sozialen Rahmenbedingung nicht ausbilden können.

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Hilfreich ist insbesondere, solche Fälle möglichst frühzeitig zu erkennen, um die sich daraus ergebende Abwärtsspirale am besten gar nicht erst zum Laufen zu bringen. So lange keine biologisch bedingte Lernstörung vorliegt, ist jede Schülerin und jeder Schüler bei einer individuell abgestimmten Lernumgebung dazu fähig, Höchstleistungen zu erbringen. So zeigen beispielsweise Studien, dass bei durchschnittlichen Schülerinnen und Schülern bei einem individuellen Unterrichten abgestimmt auf das individuelle Lernniveau und Lerntempo Leistungszuwächse zu beobachten sind, die einer Hochbegabung entsprechen.

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Um solche Abwärtsspiralen wie im Fall Daniel zu verhindern, ist es dann zum einen wichtig, den Schülerinnen und Schülern das Selbstverständnis zu vermitteln, dass jeder bei einer entsprechenden Investition von Lernzeit zu Höchstleistungen fähig ist. Zum anderen ist ein möglichst individualisierter Unterricht hilfreich, der es jeder Schülerin und jedem Schüler ermöglicht, in dem für ihn und ihr am besten geeigneten Lerntempo zu lernen.

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Schließlich ist es hilfreich den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass soziale Vergleiche in Bezug auf den zu einem bestimmten Zeitpunkt erreichten Lernstand kein sinnvoller Maßstab sind, weil das am Ende erreichte Lernniveau zählt, unabhängig davon, wie lange eine bestimmte Schülerin oder ein bestimmter Schüler für den Weg dahin braucht.

 

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2. Eine attraktive neue soziale Gruppe 

 

Ein zentraler Wirkfaktor innerhalb der Psyche ist die sogenannte soziale Identität.  Als soziale Identität wird der Teil des Selbstkonzeptes einer Person bezeichnet, der daraus resultiert, dass die Person Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe ist. Genauso wie beim Selbstwert streben wir dabei danach, eine positiv bewertete soziale Identität zu erreichen. Eine Quelle hierfür ist der Vergleich zwischen der Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt (sogenannte „Eigengruppe“), mit anderen Gruppen, zu denen man nicht gehört (sogenannten „Fremdgruppen“). Eine positive soziale Identität wird dann erlebt, wenn man den Eindruck hat, dass sich die Eigengruppe gegenüber einer Fremdgruppe positiv abhebt.

 

Wenn nun soziale Vergleichsprozesse zwischen der Eigengruppe und einer Fremdgruppe zu negativen Vergleichsergebnissen für die Eigengruppe führen, wird das Bedürfnis nach einer positiven sozialen Identität verletzt. In einem solchen Fall werden dann verschiedene psychische Mechanismen in Gang gebracht, die zum Ziel haben, wieder das Erleben einer positiven sozialen Identität herzustellen. Ein erster Weg besteht darin, in der Eigengruppe zu verbleiben und zu versuchen, diese aufzuwerten. Man kann beispielsweise versuchen, die Vergleichsdimension, auf der die eigene Gruppe schlechter abschneidet, als unwichtig anzusehen, und eine neue Vergleichsdimension zu finden, hinsichtlich dessen die Eigengruppe besser abschneidet. Oder man kann versuchen andere Fremdgruppen zu finden, gegenüber denen die Eigengruppe besser abschneidet.

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Ein zweiter Weg, um wieder das Erleben einer positiven sozialen Identität herzustellen, besteht darin, die Eigengruppe zu verlassen und sich eine neue Gruppe zu suchen, die gegenüber anderen Gruppen besser abschneidet als es für die bisherige Eigengruppe der Fall war. Diese Möglichkeit ist insofern für die persönliche Identität einschneidender, weil ein Teil des bisherigen Selbstkonzepts geändert werden muss. Die mit der bisherigen Eigengruppe gemeinsam geteilten Verhaltensgewohnheiten und Wertmaßstäbe müssen mit den in der neuen Gruppe gültigen Verhaltensgewohnheiten und Wertmaßstäben ersetzt werden. Weiterhin muss man eine soziale Rolle in der neuen Gruppe finden und übernehmen.

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In der Entwicklungsphase des Jugendalters wird dabei oft der zweite Weg beschritten. Die im Jugendalter anstehende Entwicklungsaufgabe des sich Ablösens von den Eltern und der Familie wird von manchen Jugendlichen versucht dadurch zu lösen, dass Anschluss an eine neue Gruppe gesucht wird, welche einen neuen Erlebens- und Verhaltensraum eröffnet jenseits des bisher durch Eltern und Familie geprägten sozialen Umfeldes.

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Hier kann eine mögliche Erklärung im Fall von Daniel liegen. Daniel war bisher ein unauffälliger und angepasster Schüler. Ohne jeweils groß darüber nachzudenken, trug er einfach die Kleidung, die ihm seine Eltern kauften, ging in die Schule und machte einfach das, was dort vorgegeben war, und verbrachte seine Freizeit so, wie er es schon seit der Kindheit gemacht hatte. Auch im Klassenkollektiv hatte er keine besondere Rolle inne. Er lief dort einfach ohne weiter aufzufallen mit, ohne dass das für ihn ein Problem gewesen wäre.

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Seit kurzem hat er aber begonnen, viel mehr darauf zu achten, wie er eigentlich in den Augen der anderen so wirkt und was ihn in deren Augen zu etwas Besonderem macht. Besonders cool findet er selbst eine Gruppe von Jungs, die in der letzten Reihe sitzen. Diese legen ein ausgeflipptes Äußeres an den Tag und haben immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Die Schule und die Noten scheinen ihnen völlig egal zu sein. Verglichen mit dieser Gruppe von Jungs erscheinen Daniel seine bisherigen Freunde uncool und langweilig. 

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Aus diesem Grund fängt Daniel an, sich ähnlich zu kleiden und sich eine ähnliche Frisur zuzulegen wie die Jungs in dieser Gruppe. Wenn er in der Klasse etwas sagt, achtet er immer besonders darauf, ob das bei dieser Gruppe von Jungs gut ankommt. Obwohl er zu dieser Gruppe von Jungs noch nicht dazugehört, meint er wahrzunehmen, dass diese anfangen von ihm Notiz zu nehmen, was seinen Selbstwert in die Höhe steigen lässt. Seine bisherigen Freunde lässt er dagegen zunehmend links liegen.

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Ein Problem ist das in seinen Augen uninteressante Fach Spanisch, wo Daniel aufgrund seines fehlenden Interesses bisher kaum etwas gemacht hat. Ihm ist klar, dass er ohne die Hilfsangebote der Lehrkraft und der Mitschülerinnen und Mitschüler, die für den Übertritt in die nächste Klassenstufe nötige Note nicht schaffen wird. Aber gleichzeitig würde er sich mit der Annahme dieser Hilfsangebote vor den Jungs in der letzten Reihe absolut lächerlich machen. Die haben nämlich alle auch schlechte Noten und machen sich bei jeder Gelegenheit über die Schule und das Streben nach guten Noten lustig.

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Aus diesem Grund schlägt er die Hilfsangebote aus. Vielleicht wird er es ja doch noch irgendwie schaffen. Und wenn nicht, dann findet er das inzwischen auch nicht mehr so schlimm, weil auch er mehr und mehr zu der Meinung kommt, dass die Schule eigentlich sowieso das Letzte ist. Dass er dann seine bisherigen Freunde verlieren könnte oder seine Eltern enttäuschen könnte, ist ihm auch immer mehr egal, weil er dann ja seine neue Clique der Jungs von der letzten Bank haben wird. 

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Was kann man in diesem Fall tun?

 

Auch in diesem Fall ist es wichtig, solche Dynamiken frühzeitig zu erkennen. Hilfreich dafür ist zum einen ein gutes Kennen der sozialen Strukturen in der Klasse und der Zugehörigkeit der individuellen Schülerinnen und Schüler zu den verschiedenen sozialen Gruppen. Zum anderen ist es hilfreich, sensibel zu sein für die manchmal subtilen Veränderungen im Verhalten einzelner Schülerinnen und Schüler, wie beispielsweise Veränderungen im äußeren Erscheinungsbild oder in bisherigen sozialen Verhaltensgewohnheiten.

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Um der Dynamik entgegenzuwirken, dass sich problematisch verhaltende Schülerinnen und Schüler zum Aufmerksamkeitsmagneten werden und deswegen in der Klasse an sozialer Attraktivität gewinnen, ist es hilfreich sich einer besonderen Dynamik unserer menschlichen Psyche bewusst zu sein: Unerwünschte Verhaltensweisen ziehen stärker die Aufmerksamkeit auf sich als erwünschte Verhaltensweisen, ein Phänomen, das mit dem Spruch „Bad is stronger than good“ bezeichnet wird.

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Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, kann man versuchen, gezielt den Schülerinnen und Schülern Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu geben, die erwünschte Verhaltensweisen zeigen. Von zentraler Wichtigkeit ist dabei, dass die Wertschätzung nicht nur aus der Perspektive der Lehrkraft erfolgt. Vielmehr gilt es darauf hinzuwirken, dass die Wertschätzung so erlebt wird, dass diese von den anderen Schülerinnen und Schülern kommt, da in der Zeit des Jugendalters die Gleichaltrigengruppe die relevante Sozialisationsinstanz darstellt.

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Das Kulturelle Gehirn

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Unser Erleben und Verhalten ist in einen kulturellen Rahmen eingebettet, welcher den Raum vorgibt, innerhalb dessen sich das Denken, Werten, Fühlen und Handeln der Menschen bewegt, welche derselben Kultur angehören. Der Unterschied zu den bisherigen Einflussebenen ist, dass sich alle der zu einer gemeinsamen Kultur gehörenden Personen und Gruppen trotz ihrer jeweils individuell unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensmaßstäbe innerhalb desselben Erlebens- und Verhaltensraums bewegen.

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Ein bekanntes Beispiel sind die unterschiedlichen Erlebens- und Verhaltensräume, innerhalb derer sich die Personen in individualistischen Kulturen (z.B. Deutschland) und kollektivistischen Kulturen (z.B. asiatische Länder) bewegen. In individualistischen Kulturen ist der Raum des als sinnvoll erlebten Verhaltens schwerpunktmäßig dadurch bestimmt, was aus der Perspektive der individuellen Verhaltensmaßstäbe als sinnvoll erscheint, in kollektivistischen Kulturen dagegen dadurch, was aus der Perspektive der Verhaltensmaßstäbe des umgebenden sozialen Kollektivs als sinnvoll erscheint.

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Der kulturelle Rahmen einer Person umfasst mehrere Ebenen unterschiedlicher Größenordnung. So teilen wir einen bestimmten gemeinsamen Erlebens- und Verhaltensraum mit den zur selben Nation gehörenden Personen („Nationalkultur“), mit den zur selben geografischen Region gehörenden Personen („Regionalkultur“) und mit den zu einer gemeinsamen Lebenswelt (z.B. Religion, Jugendkultur) gehörenden Personen („Subkultur“).

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Da sich das Erleben und Verhalten aller der einer bestimmten Kultur angehörenden Personen innerhalb desselben Rahmens bewegt, kommt es einem oft gar nicht in den Sinn, dass es auch ein Erleben und Verhalten geben könnte, dass sich außerhalb des kulturell vorgegebenen Rahmens bewegt. Wenn man auf solches Erleben und Verhalten trifft, erscheint einem dieses als seltsam, sinnlos oder unplausibel. Aus diesem Grund sind kulturelle Einflüsse oft besonders schwer zu sehen.

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Im besten Fall ist man sich der kulturellen Rahmung des eigenen Erlebens und Verhaltens bewusst, empfindet diesen Rahmen als sinnhaft und bewegt sich mit den eigenen Erlebens- und Verhaltensmaßstäben innerhalb dieses Rahmens. Gleichzeitig weiß man darum, dass Personen aus anderen Kulturen sich innerhalb eines anderen Rahmens bewegen können, welcher unter der Bedingung der Einhaltung universeller moralischer Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens akzeptiert und toleriert werden kann. Kulturelle Unterschiede werden dabei idealerweise als Chance begriffen, bisher nicht hinterfragte Sichtweisen zu reflektieren und gemeinsam neue Sichtweisen zu entwickeln.

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Im schlechten Fall ist man sich der Kulturabhängigkeit des eigenen Erlebens und Verhaltens nicht bewusst. Das kann zur Konsequenz haben, dass man den durch die eigene Kultur vorgegebenen Erlebens- und Verhaltensraum als einzig sinnhafte Möglichkeit des Denkens, Wertens, Fühlens und Handelns wahrnimmt und Menschen aus anderen Kulturen, die sich in einem anderen Rahmen bewegen, nicht versteht und schlimmstenfalls abwertet.

 

Ausführlichere Informationen zum Thema der kulturellen Beeinflussung des Erlebens und Verhaltens findest du im Bereich Wissen.

 

Es folgt nun eine mögliche Erklärung im Fall Daniel, die sich auf die kulturelle Beeinflussung des Verhaltens bezieht:

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1. Die Schichtzugehörigkeit 

 

Eine Quelle von Problemen in der Schule können kulturelle Unterschiede zwischen   Elternhaus und Schule sein. So kann es sein, dass eine Schülerin oder ein Schüler im familiären Setting mit Wertmaßstäben und Verhaltensregeln konfrontiert ist, deren Nichtanerkennung mit sozialer Ablehnung sanktioniert wird, während im schulischen Setting diese Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln nicht gelten und es im Extremfall sogar außerhalb der Vorstellungskraft liegt, dass es solche Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln überhaupt geben könnte.

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Im Kontext der Schule sind solche Dynamiken oft deswegen schwer zu erkennen, weil es einem oft gar nicht in den Sinn kommt, dass es auch ein Erleben und Verhalten jenseits der im schulischen Setting existierenden Regeln und Wertmaßstäbe geben könnte. Erschwerend kommt hinzu, dass Schülerinnen und Schüler mit davon abweichenden kulturellen Hintergründen diese im schulischen Kontext gar nicht zum Ausdruck bringen, weil sie Angst haben, ansonsten von den anderen abgelehnt zu werden.

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Ein Beispiel auf der Ebene der Wertmaßstäbe sind unterschiedliche Vorstellungen davon, welchen Wert das Erbringen von schulischen Leistungen hat. Ein Beispiel auf der Ebene der Verhaltensregeln sind unterschiedliche Vorstellungen davon, wer für das Lernen der Schülerinnen und Schüler zuständig ist. Beispielsweise ist bei Familien mit Migrationshintergrund oft die Auffassung anzutreffen, dass sich das schulische Lernen ausschließlich an der Schule vollzieht unter der Anleitung der Lehrkraft (sogenanntes „Delegationsmodell“). Für deutsche Familien ist dagegen eher die Auffassung typisch, dass die Eltern den Lernprozess zu Hause aktiv unterstützen (sogenanntes „Komplementärmodell“). 

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Im Fall von Daniel könnte hier eine mögliche Erklärung seines Verhaltens zu finden sein. Daniel stammt aus einer Familie, in der es keine Akademiker gibt. Seit Generationen fühlt man sich der Arbeiterschicht angehörig. Das Selbstverständnis der Familie ist geprägt von Werten wie handwerklichem Geschick und Wertschätzung für praktisches Erfahrungswissen. Das Abitur wird eigentlich für unnötig erachtet. Für Daniels schulische Leistungen interessiert sich in seiner Familie eigentlich niemand. Er geht hier einfach seinen Weg an der Schule, ohne dass ihn die Eltern zu Hause dabei unterstützen. In dieser Kultur ist Daniel aufgewachsen und er hat sie durch die Interaktion mit seinen Eltern mitbekommen und verinnerlicht.

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Da Daniel ein intelligenter Schüler mit kaum Problemen in der Schule ist, besucht er trotzdem das Gymnasium. In der spät hinzugekommenen Fremdsprache Spanisch hat Daniel nun erstmals ernsthafte Probleme in der Schule. Dementsprechend wird für ihn nun zum ersten Mal die Frage relevant, wie wichtig ihm das Erbringen schulischer Leistung ist.

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Hier kommt nun sein kultureller Hintergrund zum Tragen. Umso größer seine Misserfolge in Spanisch ausfallen, desto deutlicher besinnt er sich darauf, was er in seiner Familie sowohl explizit als auch implizit mitbekommen hat: Eine Ausbildung in einem Handwerksbetrieb ist der Weg, den Personen wie er am besten gehen sollten und dafür ist das Abitur eigentlich überflüssig und nur Zeitverschwendung. Dass er mit mehr Anstrengung und Unterstützung durchaus die für den Übertritt in die neue Klassenstufe nötige Note in Spanisch erreichen könnte, ist ihm zwar bewusst, aber diese Mühe ist es ihm nicht wert.

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Was ist in diesem Fall zu tun?

 

In diesem Fall ist es wichtig, anderen kulturellen Maßstäben wertfrei zu begegnen. Bei einem kulturellen Wertrahmen gibt es kein richtig oder falsch. Dies bedeutet nicht, dass man anderen Standards zustimmen muss, doch es ist wichtig, Personen mit anderen kulturellen Wertmaßstäben und Verhaltensregeln auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen. Hierfür kann es hilfreich sein, sich immer wieder auch mit Personen außerhalb der eignen Schicht oder Kultur zu beschäftigen.

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Gelingt es mit Daniel in ein offenes Gespräch zu kommen, kann man versuchen, mit ihm über die unterschiedlichen kulturellen Wertmaßstäbe und Verhaltensregeln ins Gespräch zu kommen. Zum einen eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, sich der verschiedenen Sichtweisen bewusst zu werden und sich gegenseitig besser zu verstehen. Zum anderen kann man Daniel die eigene kulturelle Sichtweise als mögliche Perspektive anbieten, mit welcher er auf seine Zukunft blicken kann. Damit eröffnet sich die Chance, dass sich Daniel mit den Optionen, die das Abitur eröffnet, tiefergehend beschäftigt, und sich möglicherweise aus sich heraus doch für ein verstärktes Engagement im Spanischunterricht entscheidet.

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ENTWICKLUNGSPROBLEM ODER STÖRUNG

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Entwicklungsproblem versus Psychische Erkrankung

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Bei einem Verhalten wie Lisas konsequentem Schweigen kommt vielleicht unwillkürlich die Frage auf: Steckt dahinter womöglich eine psychische Erkrankung? Wäre dem so, dann würde der Versuch, Lisa zu helfen, nicht mehr in den Aufgabenbereich einer Lehrkraft fallen. Stattdessen müssen Fachexperten mit einer psychotherapeutischen Ausbildung hinzugezogen werden. Würde man es in einem solchen Fall als Aufgabe einer Lehrkraft ansehen, Lisa weiterzuhelfen, würde man hoher Wahrscheinlichkeit scheitern, was die Gefahr mit sich bringt, als Lehrkraft auszubrennen.

 

Aus diesem Grund ist es wichtig erkennen zu können, ob das Problemverhalten eines Heranwachsenden daraus resultiert, dass bestimmte Entwicklungsaufgaben, die auf dem Weg in Erwachsenenalter erfolgreich durchlaufen werden müssen, noch nicht zufriedenstellen gelöst werden konnten, oder aber daraus, dass bei einem Heranwachsenden eine psychische Erkrankung vorliegt. Im ersten Fall würde es in den Aufgabenbereich einer Lehrkraft fallen, dem Heranwachsenden weiterzuhelfen, im zweiten Fall nicht.

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Um dieser Frage nachgehen zu können, ist es hilfreich, zu wissen, ab wann man eigentlich von einer psychischen Erkrankung spricht. Zunächst ist es hier wichtig sich klarzumachen, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen einer körperlichen und einer psychischen Erkrankung gibt. Bei körperlichen Erkrankungen ist es so, dass es meist eine spezifische krankmachende Ursache gibt, die außerhalb der Person liegt, und welche Beschwerden hervorruft, die für die Person selbst keinerlei Sinn machen. Man kann deswegen bei körperlichen Erkrankungen relativ klar zwischen „normal“ und krank“ unterscheiden.

 

Bei psychischen Erkrankungen ist das anders. Auch hier gibt es oft äußere Auslöser, aber die eigentliche Ursache der Erkrankung ist, dass einer der inneren Steuerungsmechanismen unserer Psyche aus dem Ruder gelaufen ist, und begonnen hat, ein Eigenleben zu führen. Die Krankheitsursache ist also ein Teil der Person selbst, und das dadurch bedingte problematische Verhalten macht aus der Perspektive des aus dem Ruder gelaufenen Steuerungsmechanismus durchaus Sinn.

 

Hier ist es dementsprechend deutlich schwerer zwischen „normal“ und „krank“ zu unterscheiden. Jede psychische Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund von Reifungsprozessen oder neuen Lebensumständen die bisher etablierten inneren Steuerungsmechanismen nicht mehr ausreichend sind, so dass es völlig normal ist, dass die Psyche zunächst außer Tritt gerät. Das Auftreten von „problematischem“ Erleben und Verhalten ist also ein notwendiges Element der psychischen Entwicklung von Menschen.

 

Die Schwierigkeit besteht nun darin, die Grenze festzumachen, ab wann eine Psyche so stark außer Tritt geraten ist, dass es nicht mehr als Ausdruck der normalen Entwicklung einer Person anzusehen ist, sondern eine psychischen Erkrankung vorliegt.

Kennzeichen für den Übergang von „normal“ zu „psychische Erkrankung“ können sein:

 

  • Wenn das problematische Verhalten über einen längeren Zeitraum gezeigt wird.

  • Wenn das problematische Verhalten einen hohen Schweregrad aufweist.

  • Wenn das problematische Verhalten für die Person keinerlei Funktion zu haben scheint.

  • Wenn das problematische Verhalten mit einem hohen Leidensdruck bei der betroffenen Person verbunden ist.

  • Wenn das problematische Verhalten eine starke Abweichung von der Norm darstellt.

 

Wichtig ist noch der Hinweis, dass das, was als „normal“ und „abnormal“ wahrgenommen wird, von Kultur zu Kultur unterschiedlich sein kann und sich historisch wandeln kann. Beispielsweise kann ein Jugendlicher mit einem aus unserer kulturellen Perspektive gestörtem sozialen Distanzverhältnis in einer Kultur sehr gut zurechtkommen, in welcher der Abstand, den Menschen voneinander halten, geringer ist. Ein Beispiel für eine historische Veränderung ist das Streichen der Homosexualität von der Liste der psychischen Erkrankungen durch die WHO in Jahr 1990, wodurch viele Menschen, die zuvor noch als „psychisch krank“ galten, von nun an als „normal“ eingestuft wurden.

 

Der Fall von Daniel: Eine mögliche psychische Erkrankung?

 

Man kann den Übergang von „normal“ zu „psychische Erkrankung“ am Beispiel von Daniels Verhalten im Fach Spanisch verdeutlichen. Im diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen ist tatsächlich eine psychische Störung beschrieben, welche auf das Verhalten von Daniel im Fach Spanisch zutreffen könnte: Die sogenannte „Depressive Episode“, welche eine relativ weit verbreitete affektive Störung beschreibt, von der drei bis zehn Prozent der Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren betroffen sind.

Als Leitsymptome werden genannt:

 

  • Depressive, gedrückte Stimmung.

  • Interessensverlust und Freudlosigkeit.

  • Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen.

  • Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit (oft selbst nach kleinen Anstrengungen) und Aktivitätseinschränkung.

  • Zahlreiche Zusatzsymptome wie beispielsweise verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen oder Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit.

  • Das Fortbestehen der Hauptsymptome (Anzahl je nach Schweregrad) über mindestens 14 Tage.

 

Eine Depression tritt häufig auch in Kombination mit anderen psychischen Störungen auf. Eine depressive Grunderkrankung kann beispielsweise zur Entstehung einer Substanzabhängigkeit beitragen. Als Ursache und Auslöser geht man heutzutage vom Zusammenwirken unterschiedlicher Stressoren und möglicherweise belastender Lebensereignisse aus. Da das Problem von Daniel aber nur spezifisch im Fach Spanisch auftritt, während depressive Störungen üblicherweise das vollständige Handlungsspektrum einer Person umfassen, ist es im Fall von Daniel eher unwahrscheinlich, dass hier die Ursache liegen könnte. In dieser Richtung nach möglichen Ursachen zu suchen wäre nur dann sinnvoll, wenn der Interessensverlust, der fehlende Antrieb und die gedrückte Stimmung nicht nur das Fach Spanisch betreffen, sondern Daniels generelles Dasein.

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